Mehrheitsverlust

Abschied. Warum auch Kern den Mehrheitsverlust von Rot-Schwarz nicht verhindern kann. Und das Parteiensystem wegen seines lahmgelegtem Erneuerungsmechanismus zerbricht.

In einer Wohlfahrtsdemokratie tut eine Regierung zweierlei: Erstens begünstigt sie spezielle Wählergruppen und verteilt die Kosten dafür auf alle, damit sie es nicht so spüren. Zweitens begünstigt sie – etwa durch eine Steuerreform – die große Masse auf Kosten spezifischer Gruppen (Raucher, Autofahrer etc.). Sie erzeugt damit zwangsläufig Frustration. Begünstigt sie eine bestimmte Gruppe, zählen sich alle anderen zu den Verlierern. Begünstigt sie die Allgemeinheit, verpufft das, denn niemand hat seine relative Position verbessert. Aber wer dafür zur Kassa gebeten wird, spürt es.

Daran kommt keine Regierung vorbei. Auch wenn sie gut arbeitet, kann sie diesen Prozess nur verlangsamen, aber nicht stoppen: Immer mehr Menschen meinen, dass sie die einzigen Nettozahler des Sozialsystems sind, dass ihre Anliegen nichts gelten, dass die Politik hauptsächlich den anderen dient. Das subjektive Draußensein wird noch verstärkt, wenn die eigene Weltanschauung zu kurz kommt, was sie zwangsläufig tut, mal mehr, mal weniger. Irgendwann wird man dann entweder Nichtwähler oder wählt die Opposition, die so einst die Regierung ablösen wird. Und das Spiel beginnt von vorn.

Das ist so, weil vermeintliche Benachteiligungen ebenso stark wirken wie tatsächliche, und weil Dankbarkeit schnell verfliegt, da man ein Recht auf die Wohltaten zu haben meint. Ein Beispiel ist die Auswirkung der Flüchtlingspolitik auf die Präsidentenwahl: Wer sich vom „System“ alleingelassen fühlt, den hat empört, dass die Regierung anfänglich die Sicherheit der Flüchtlinge wichtiger genommen hat als seine eigene. Diese Empörung hat den späteren Kurswechsel der Regierung auch dann überdauert, wenn die eigene Sicherheit nie tatsächlich gefährdet war. Und die Flüchtlingsfreunde sind sowieso empört über den Kurswechsel.

Eine alteingesessene Koalition kann kein Steuer herumreißen. Auch Christian Kern kann nicht verhindern, dass bei der nächsten Wahl Rot-Schwarz unter Wasser kommt. Wegen der Ausgrenzung der FPÖ ist ausgeschlossen, was eine normale Demokratie erneuert: dass die Regierung abgewählt, die Frustration damit ausgelebt und verarbeitet wird. Stattdessen kommt vielleicht eine letzte Verlängerung der Regierung (mit Grünen und/oder Neos) – und dann hört entweder die FPÖ-Ausgrenzung auf (wofür es zu spät sein dürfte) oder das ganze System zerbricht mangels Möglichkeit zur Erneuerung. Das könnte schon bald mit der Entstehung einer linken Sammelpartei jenseits des rechten SPÖ-Flügels beginnen. Und dann wird sowieso alles anders.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.