Ende gut, alles gut

Warum es richtig sein kann, eine Schule nach einem Verbrecher zu benennen. Und warum der Nationalsozialismus damit nur am Rande zu tun hat.

Eine Mittelschule in Wien trägt nun den Namen ihres ehemaligen Schülers Friedrich Zawrel. Laut den FPÖ-Bezirksräten ein „Skandal“: Ein „Verbrecher“ als Namensgeber! ÖVP und SPÖ hielten dagegen: Ja, Zawrel sei zwar wegen Diebstahl und Einbruch jahrelang eingesessen, aber er war ein Opfer des Nationalsozialismus und habe später die Rolle des Arztes Heinrich Gross bei den NS-Kindermorden im Wiener Spiegelgrund ans Licht gebracht.

Mir fehlt da der wesentliche Punkt.

Friedrich Zawrel war der Inbegriff des hoffnungslosen Falls. Eine disfunktionale Familie, zweimal werden den Eltern die Kinder weggenommen. Als der 14-jährige Bub 1944 erstmals als Dieb vor Gericht steht, hat er schon neun Jahre Pflegefamilien, Erziehungsheime und die „Fürsorgeanstalt“ am Spiegelgrund hinter sich. Immer ist er der letzte Dreck, gedemütigt, gemobbt, durch medizinische Experimente gequält, geprügelt, misshandelt und missbraucht. Für kichernde Schwesternschülerinnen ist er nacktes Anschauungsmaterial für „erbbiologische und soziologische Minderwertigkeit“. Er ist der „Depperte“, aus dem eh nie was wird.

Ein bürgerliches Leben scheitert, er kehrt immer wieder zum Stehlen zurück. Und die Demütigungen hören nicht auf. 1975 begutachtet ihn Heinrich Gross für die Justiz, aus der Jugendakte zitierend: Zawrel sei „charakterlich grob abartig“ und von „monströser Gemütsarmut“. Man solle ihn für immer in eine Anstalt für gefährliche Rückfallstäter stecken. Ein hoffnungsloser Fall.

Und doch: 1981 kommt Friedrich Zawrel frei und lebt die restlichen 34 Jahre seines Lebens in Würde und Anstand, wird mehrfach ausgezeichnet. Dass der Mensch in Friedrich Zawrel sich trotz allem nicht unterkriegen ließ und schließlich ganz aufrichten konnte – das ist seine eigentliche, gewaltige Leistung. Es gibt keinen hoffnungslosen Fall.

Denn ein Mensch kann nie nur auf ein Einziges reduziert werden. Niemand ist nur Verbrecher. Oder nur Vorbild. Selbst ein Mörder ist nie nur ein Mörder. Ein Mensch ist immer noch mehr. Und: Man kann den Wert eines Lebens, einer Biografie nicht an einzelnen Stationen festmachen.

Auch im Christentum ist ein Heiliger nicht der, in dessen Lebensbilanz das Gute das Schlechte überwiegt, sondern der, der sein Leben zu einem guten Ende, zu einem Ende im Guten führt. Diese Sichtweise erlöst uns von der Tyrannei der Altlasten: Nicht, was ein Mensch hinter sich hat, definiert ihn, sondern wohin er strebt. Nicht das Fallen, sondern das Aufstehen. Eine Schule, in der man wirklich für das Leben lernt, soll den Namen Friedrich Zawrels hochhalten.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2016)

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