Schläge auf den Hinterkopf

Der Brexit ist ein Unding. Aber vielleicht lässt er uns erkennen, wie wichtig Autonomie ist – und wie destruktiv das Reden vom bösen Markt.

Vielleicht hat der Brexit ein Gutes: Wäre die EU noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, würde ihr der Leidensdruck für die nötige Erneuerung fehlen. Die Frage ist nur, ob sie nun die richtige Erneuerung schafft. Brüssel hat nämlich zunehmend vergessen: Für Freiheit und Frieden ist Autonomie noch wichtiger als Mitbestimmung. In einer Familie ist ein Kind freier (und meist auch friedlicher), wenn es anziehen kann, was es möchte, als wenn es mitbestimmen darf, was alle Kinder anzuziehen haben. Für eine Bürokratie, die natürlicherweise immer neue Zuständigkeiten sucht, ist Autonomie ein Störfaktor. Sie lehnt sie unter dem Vorwand ab, dass die Zentrale besser weiß als die Menschen vor Ort, was gut ist für sie.

Eine echte Erneuerung wäre daher etwa eine EU-Verfassung, die nur aus der Auflistung aller grenzüberschreitenden Anliegen besteht, die Unionsmaterie sein dürfen. Und diese Verfassung darf nur aus einer einzigen A4-Seite bestehen, mit Schrift in Normalgröße. Keine Reform wäre es jedenfalls, den Menschen künftig bloß noch eindringlicher erklären zu wollen, warum die Zentrale alles besser weiß und kann.

Die Eigenbrötlerei, die im Brexit zum Ausdruck kommt, ist typische Konsequenz jeder größeren Wirtschaftskrise. Renationalisierung ist eine rationale Entscheidung der Menschen mit wenig Gestaltungsspielraum. Wer mit Immigranten um einen Job konkurrieren muss, wer sich im rauen Wohnviertel täglich neu behaupten muss, wer sich um die letzte leistbare Mietwohnung prügeln muss, wer empfindet, dass alle anderen vom Staat gefördert werden, nur nicht er – der handelt in Zeiten der Bedrängnis rational, wenn er für eine Verringerung seiner Konkurrenten votiert.

Dass diese Bedrängnis heute weit stärker gefühlt wird und damit weit größere politische Wirkung hat, als es ihrem tatsächlichen Ausmaß entspricht, verdanken wir auch der ebenfalls typischen Post-Crash-Mode des Schlechtmachens der Marktwirtschaft.

Die EU ist aus dem Vertrauen darauf entstanden, dass freie Märkte besser sind als staatlich manipulierte und dass größere Märkte mehr Wohlstand schaffen als kleinere. Wer ständig dieses Prinzip als quasi-religiösen Aberglauben denunziert, Massenverarmung herbeiredet und als Allheilmittel den starken Staat empfiehlt, darf sich nicht wundern, wenn ihm irgendwann die Menschen glauben. Dass sie sich dann dem eigenen Staat eher zuwenden als dem Überstaat der EU, ist auch wieder rational. Denn dass eine mächtige Regierung in Brüssel besser für ihn sorgen könnte als eine in seiner Nähe – daran glauben nur die wenigsten.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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