Mutter Teresa und der Pluralismus

Der Islam macht wieder deutlich, wie anstößig Religion sein kann. Aber auch das Christentum eckt an. Selbst in Gestalt einer kleinen faltigen Nonne.

Die demokratische, pluralistische Liberale geht davon aus, dass Religion, richtig gelebt, eine private Sache ist, die der Erbauung dient und ihre Anhänger dazu motiviert, gute Menschen zu sein. Daher können Religionen und säkularer Staat problemlos nebeneinander existieren. Es macht letzten Endes genau so wenig aus, ob einer Atheist, Christ oder Muslim ist, wie ob einer Justin Bieber verehrt oder grässlich findet.

Diese Grundannahme ist falsch. Religion spielt sich nie nur in der Privatsphäre ab, in einer Wirklichkeit, die neben der öffentlichen existiert. Deutlich macht das Mutter Teresa, die heute von der katholischen Kirche heiliggesprochen wird. Der Hauptvorwurf etwa ihres vehementesten Kritikers, Christopher Hitchens, lautete, dass sie nicht Sozialarbeterin sei, sondern eine Katholikin, die ihr Engagement als Gottesdienst verstehe und ihren Ruhm dazu verwende, auch provozierende Botschaften ihrer Religion zu propagieren. Leidversessenheit und nicht der Wille, die Welt zu verbessern, habe sie motiviert.

Ja, religiöse Motivation ist eben nicht dasselbe wie ein Handeln aus dem säkularen Wertekonsens. Wirkliche Religion wird sogar noch in der recht unaggressiven Erscheinungsform einer kleinen, faltigen Nonne die sie umgebende Gesellschaft durchrütteln und infrage stellen. Sie wird ihre Wirkung nicht im stillen Kämmerlein verströmen. Das löst Unbehagen aus bei allen, die Religion nur so lang akzeptieren, solange sie parallel zur Gesellschaft läuft und nicht quer. Für sie wäre Mutter Teresa nur dann eine Heilige, wenn sie stromlinienförmiger, angepasster gewesen wäre. Eine Religion, die nicht den ganzen Menschen erfasst und sein Leben und Wirken prägt, seine Auffassungen von Gut und Böse formt und für ihn eine höhere Autorität darstellt als der Staat, ist aber keine Religion. Das muss klar sein, wenn man Religion zulässt, und das gilt nicht nur für den Islam. In dem Ausmaß, in dem sich die europäische Wertewelt wegbewegt vom Christlichen, eckt ja auch das Christentum wieder an – etwa in der Abtreibungsfrage, beim Ehebegriff oder in Mutter Teresas Umgang mit dem Leid.

Der Islam macht nur das Bild von Religion als Stein des Anstoßes wieder besonders deutlich. In einer säkularen Gesellschaft mit wenig Selbstbewusstsein wird die Antwort sein, Religion an den Rand zu drängen und an einer Staatsideologie zu basteln. Anderswo wird man einfach sagen: Das ist eben der Pluralismus – ein Ringen des Konformen mit dem Konträren. Und der Staat muss nicht Ersteres vor Zweiterem schützen, sondern nur das Ringen selbst.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2016)

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