Not macht solidarisch

Auch Hurrikan Harvey zeigt: Die Zivilisation ist kein dünnes Eis, das leicht zerbricht. Anarchie und Seuchengefahr sind als Katastrophenfolgen reiner Mythos.

Gewichtige Worte schrieb der britische Historiker und Bestsellerautor Timothy Garton Ash 2005 als „Lektion des Hurrikans Katrina“: Die Kruste der Zivilisation sei nur hauchdünn. „Nimm die elementaren Grundlagen des organisierten, zivilisierten Lebens weg – Nahrung, Obdach, Trinkwasser, persönliche Sicherheit –, und wir fallen binnen weniger Stunden zurück in einen Hobbes'schen Naturzustand: einen Krieg jeder gegen jeden.“

Welchen Unsinn gelehrte Menschen doch manchmal schreiben. Die Sozialforschung hat längst festgestellt, dass das Gegenteil wahr ist: Es mag vereinzelt Gewalt und Plünderung geben, und in beengten Notquartieren können häusliche Konflikte posttraumatisch eskalieren. Aber im Großen und Ganzen reagiert die Gesellschaft auf eine Notsituation mit mehr Solidarität, mehr gegenseitiger Hilfe, mehr Großherzigkeit.

Das hat sich jetzt wieder beim Hurrikan Harvey in Texas gezeigt. Und ich erinnere mich, wie mein „Presse“-Kollege Gerhard Hofer nach der Rekordflut in Niederösterreich 2002 jeder Geschichte über angebliche Plünderungen nachgegangen ist: Keine einzige hat sich als wahr erwiesen.

Die zerfallende Zivilisation ist genauso ein Desastermythos wie die „drohenden Seuchen“. Wo es vorher keine Epidemien gegeben hat, gibt es auch nachher keine, allenfalls Läuse im Auffanglager. Wo vorher nicht Gewalt geherrscht hat, herrscht sie auch nachher nicht. Die typischen Bilder aus dem Hurrikangebiet sind nicht Plünderer, sondern lange Schlangen geduldig auf ihre Einschulung wartender freiwilliger Helfer. Die typischen Geschichten handeln von Opferbereitschaft und spontan organisierter Ordnung. „Ich habe in diesen Tagen mehr Nachbarn kennengelernt als in den 20 Jahren, die ich hier lebe“, sagte in Houston jemand ins Mikrofon.

Das Desaster-Studium zeigt, dass das zivilisierte, solidarische Zusammenleben nicht durch Druck der Obrigkeit zustande kommt, sondern ein dem Menschen innewohnender Zug ist. Ob bombardierte Städte, 9/11, Tsunamis, Hurrikans – die Zivilisation bricht nicht ein, sondern bewährt sich, auf oft beeindruckende Weise.

Ein Triumph der Solidarität – das ist weithin das Grundsentiment in diesen Stunden. Donald Trump hatte den Instinkt, auf dieser Welle zu reiten. Während etwa die „Washington Post“ die These von der Abgehobenheit der linksliberalen Medien stützte, indem sie lang und breit darüber schrieb, dass Trumps Baseballkappe, die er im Überschwemmungsgebiet trug, Product-Placement sei. So etwas interessiert wirklich niemanden in Tagen, in denen die Menschheitsfamilie zu großer Form aufläuft.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2017)

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