"Debatte": Zu viel Gerede um Europas Zukunft

viel Gerede Europas Zukunft
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Mit dem Überleben der Währungsunion steht die Zukunft der europäischen Zivilisation auf dem Spiel, meint Ex-Kanzler Helmut Schmidt. Aber genau dieses unpragmatische Pathos bedroht den Euro.

Unter den vielen Beiträgen der Vorwoche zur Eurokrise war der entspannteste jener von Julio C. Saavedra, einem Wirtschaftsforscher der CESifo-Gruppe: Beim letzten PISA-Test haben nur fünf Euro-Länder in Mathematik weniger als 488 Punkte erzielt – Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien. Dieselben fünf Länder, die wegen ihrer Budgetdefizite derzeit mehr als vier Prozent Zinsen auf zehnjährige Staatsanleihen zahlen müssen. Saavedras gutgelaunter Schluss: Vergessen wir die vielen Milliarden für Euro-Rettungsfonds, und schicken wir stattdessen eine Armee von Mathematiklehrern in diese Länder! Und: Nie wieder dürfen wir ein Land mit weniger als 488 PISA-Punkten in die Eurozone aufnehmen.

Viel weniger entspannt äußerte sich der ehemalige deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Leitartikel in der aktuellen „Zeit“ so übertitelt wird: „Wir müssen die gemeinsame Währung gegen nationale Egoismen verteidigen. Sonst gibt es kein geeintes Europa mehr. Und dann steht nichts Geringeres auf dem Spiel als unsere Zivilisation.“ Eine Woche zuvor hatte in der „Zeit“ schon der stellvertretende Chefredakteur, Matthias Naß, geschrieben: „Die Einführung der Gemeinschaftswährung war die wichtigste politische Entscheidung, die Europa je getroffen hat. Ihr Ende, kein Zweifel, wäre der Beginn vom Ende der EU.“

Die Idee, dass ein Misserfolg einer europäischen Initiative gleich das ganze Werk in den Abgrund reißen würde, begegnet uns ja regelmäßig. Zuletzt etwa bei den Warnungen vor einem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon. Aber diese Sichtweise des ständigen „Jetzt geht es ums Ganze!“ stellt die eigentliche Gefahr für die Integration dar, weil sie pragmatische Entscheidungen erschwert und gleichzeitig den Zentralismus verstärkt. Denn wer hätte das Ganze besser im Blick als die Zentrale?


Nirgendwo wird die generelle Problematik dieser Sichtweise für die EU deutlicher als in dem Jacques-Delors-Wort, das auf den ersten Präsidenten der damaligen EWG-Kommission, Walter Hallstein, zurückgeht: „Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.“ Das ist eigentlich eine Bankrotterklärung: Demnach wäre die EU keine robuste Institution, sondern ein Gebilde, das in sich zusammenbricht, wenn es eine passable Endausbaustufe erreicht hat. Diese Sichtweise ist zwar eine wunderbare Daseinsberechtigung für die sich immer neue Aufgaben schaffende EU-Bürokratie. Aber sie bewirkt, dass der Maßstab für Veränderungen nicht ein besseres Funktionieren der bestehenden Institution ist, sondern der nächste große Schritt nach vorn. Wobei jeder unter diesem „vorn“ etwas anderes versteht.

Dieses Denken in Meilensteinen beschert uns regelmäßig übergroße Integrationsschritte, deren Bewältigung offenbar nur dann gelingt, wenn sie vom nächsten großen Schritt überlagert wird. Die disruptive Gehetztheit in der Verfolgung eines nicht festgelegten, aber trotzdem allgemein verbindlichen fernen Ziels ist ein Bärendienst, den die Europapolitiker der EU leisten, denn er verhindert, dass auch einmal ein Schritt zurück gegangen werden kann.


So gefährdet das Pathos des „Alles oder nichts“ eher die Währungsunion, als dass es sie garantiert. Gerade auf Finanzmärkten ist es gefährlich, wenn ökonomische Realität und politischer Anspruch auseinanderklaffen. Früher oder später setzt sich immer die Ökonomie durch – und die Politik, das heißt der Steuerzahler, zahlt die Rechnung für den Kampf um die illusionäre Aufrechterhaltung einer politischen Vision.

Nirgendwo hat man das so schön sehen können wie am „Black Wednesday“, dem 16. September 1992. Die damalige Regierung unter John Major hatte die Teilnahme Großbritanniens am Europäischen Währungssystem als Prestigeprojekt begriffen und sich in der Hoffnung auf „deutsche“ Stabilität und niedrige Inflationsraten zu einem illusorischen Pfund-Kurs verpflichtet, der einfach nicht der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des in einer Rezession befindlichen Landes entsprach.

Um diesen hohen Kurs halten zu können, mussten hohe Zinsen auf das Pfund gezahlt werden, die zwar Devisenkäufer lockten, aber die Rezession weiter vertieften. George Soros et al. hatten die Unhaltbarkeit dieses Zustandes erkannt und traten den Beweis an, dass nicht einmal die Bank of England potent genug war, um einen stark willkürlichen Devisenkurs auf Dauer halten zu können. Als sie nun am 16. September Milliarden Pfund bei den Banken ausborgten und sie gegen D-Mark eintauschten, sank der Pfund-Kurs unter die im Währungssystem vereinbarte Schwelle. Weil alle Versuche der Regierung, mit ihren Dollar- und D-Mark-Reserven Pfunde zu kaufen und durch die Erhöhung der Zinsen von 10 auf 15 Prozent die Spekulanten abzuschrecken, nichts fruchteten, musste Major am Abend den Austritt aus dem Währungssystem bekanntgeben.

Die Folgen waren segensreich für Großbritannien: Das Pfund sank (vorübergehend), was der Exportwirtschaft gut tat. Die hohen Zinsen waren nicht länger nötig, sie sanken innerhalb von vier Monaten auf 6 Prozent, was die Konjunktur belebte, ohne dass die Inflation beunruhigend zugenommen hätte. Aber John Major verlor trotz boomender Wirtschaft die nächsten Wahlen. Nicht von ungefähr: Die von ihm angeordnete sinnlose Rettungsaktion des überhöhten Pfund-Kurses hatte 3,3 Milliarden Pfund gekostet – ein unnötiges Geschenk für die Spekulanten. Und noch sechs Tage vor dem „Black Wednesday“ hatte Major erklärt hatte, ein Ausstieg aus dem Währungsmechanismus komme nicht in Frage, weil er eine Katastrophe für England sei.


Die Währungsunion ist freilich nicht dasselbe wie der Währungsmechanismus des Jahres 1992, auch wenn Politiker nach wie vor gern das Feindbild angreifender Spekulanten bemühen. Eine einzelne Währung aus dem Mechanismus herauszuschießen, indem man sie unter einen von der Politik willkürlich festgelegten Schwellenwert drückt, ist viel einfacher, als einen Teilnehmer aus einer echten Währungsunion zu zwingen. Natürlich lässt sich durch die richtige Einschätzung der künftigen Entwicklungen auch hier Geld verdienen – aber die Spekulanten haben kaum Macht, diese Entwicklungen selbst herbeizuführen. Für Staatsanleihen gibt es keine verpflichtenden Schwellenwerte.

Der Währungsunion wäre aber auch ohne Spekulanten eine Zerreißprobe nicht erspart geblieben. Denn was passiert, wenn in einer Währungsunion die einzelnen Teile in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auseinanderdriften – wie es im Euro-Raum der Fall ist? Dann wird das europäische Zinsniveau für Unternehmen und Konsumenten der schwächeren Staaten zu hoch und eine Belastung für deren Konjunktur. Für die Regierungen der schwächeren Staaten gilt aber das Umgekehrte: Sie haben zwar höhere Zinsen für Staatsanleihen zu bezahlen als die erfolgreichen Länder, aber immer noch niedrigere als ohne Währungsunion – weil dann kein reicher Onkel im Hintergrund für die Rückzahlung bürgt. Eine Währungsunion ist also unweigerlich eine Versuchung für die Regierungen schwacher Länder, den mit Sicherheit auftretenden Problemen ihrer Wirtschaft weniger durch politisch kostspielige Reformen als durch vergleichsweise günstige Staatsverschuldung zu begegnen.

Hat also ein Land in einer Währungsunion einen beträchtlichen Produktivitätsrückstand gegenüber den anderen, gibt es nur drei Möglichkeiten: Entweder das Land holt auf. Oder es holt nicht auf – dann müssen entweder die Produktiveren auf Dauer viel Geld den Unproduktiveren schicken, damit sich diese die Währungsunion leisten können. Oder es wandern umgekehrt die Unproduktiveren in großen Mengen dorthin, wo das produktivere Geld sitzt. Eine weitere Möglichkeit gibt es nicht – außer der Trennung.
Der Test für eine Währungsunion liegt also darin, ob die weniger produktiven Länder ihr Manko beheben können bzw. ob andernfalls die Reichen gewillt sind, auf Dauer den Schlendrian zu finanzieren (eine große Wanderungsbewegung ist unrealistisch). Rituelle Beschwörungen, dass der erste Fall ganz sicher eintreten wird, weil der zweite Fall nicht eintreten darf und die Alternative – die zumindest teilweise Auflösung der Währungsunion – zum Untergang Europas führen würde, erweisen der Sache keinen guten Dienst.

Nun gibt es also eine Grundsatzeinigung für einen Rettungsmechanismus. Er sieht aber nur vor, dass es Rettungsaktionen auch über 2013 hinaus geben darf, und nur als „Nothilfe“ und unter „Bedingungen“. Solche Rettungsaktionen sind auch sinnvoll für Länder wie Irland, das zwar durch ein paar politische Fehler – Anheizen einer Immobilienblase, Generalhaftung für alle Bankgläubiger – in eine vorübergehende Schieflage geraten, aber prinzipiell für einen Wachstumskurs gut aufgestellt ist. Irland hat zum Beispiel seinen Boom genützt, um einen Großteil der Staatsschulden abzubauen – von fast 120 Prozent des BIPs Mitte der 80er-Jahre auf nur noch 25 Prozent 2007.

Genau für solche Fälle wurde übrigens der Internationale Währungsfonds gegründet. Er sollte in der Zeit der fixen Wechselkurse Ländern helfen, die wegen vorübergehender Schwierigkeiten ihren Währungskurs nicht stabil halten konnten. Geworden ist daraus aber eine Institution, die mit Dauerinfusionen ständig schwächelnde Staaten am Leben erhält. Ihre Kredite, die als Überbrückungsmaßnahme gedacht waren, haben trotz der befohlenen Sparmaßnahmen selten nachhaltige Wirkung – weil sie tief sitzende Traditionen unproduktiver Volkswirtschaften nicht einfach abstellen können.

Von den Verhandlungen der nächsten Monate wird abhängen, ob der kommende Europäische Währungsfonds bloß die geplante Krisenfeuerwehr wird oder ein neuer Rahmen für einen Dauertransfer vom Norden der Gemeinschaft in den Süden (und später vielleicht auch den Osten). Eine gemeinsame Wirtschaftsführung wäre dabei nur dann eine gute Idee, wenn man erwarten könnte, dass dem europäischen Wirtschaftsminister gelingt, was ein Europäischer Währungsfonds sicher nicht kann: systemische Übel in den Schlendrian-Ländern zu beseitigen und damit einen nachhaltigen Produktivitätsschub bei Bürokratien, Wirtschaftslenkern und Arbeitskräften auszulösen.

Aber eine solche Aufgabe ist von außen nicht bewältigbar. Und selbst wenn, ist ein solcher Souveränitätsverzicht der nationalen Regierungen undenkbar. Wahrscheinlicher ist, dass eine Wirtschaftsführung bloß den Wettbewerb zwischen den Ländern herabsetzt, zum Beispiel, indem man den Iren die niedrige Körperschaftssteuer verbietet, die aber mit den Problemen des Landes wenig zu tun hat und eher ein Garant als ein Hemmnis für den Wiederaufschwung Irlands ist.

Damit Marktdisziplin auf die Regierungen direkt und ohne kostspielige Verzögerungen wirken kann, wäre es das Um und Auf, gangbare und realistische Regeln für eine ordnungsgemäße Abwicklung eines Staatsbankrotts und den Ausschluss eines Mitglieds aus der Währungsunion zu beschließen. Ohne die quasi automatisch einsetzende Drohung solcher Konsequenzen bleiben die jetzigen Formulierung von „Nothilfe“ und „Bedingungen“ leeres Gerede.

Denn jedes Mal, wenn etwa Griechenland wieder nicht den Anschluss schafft, die Bedingungen nicht eingehalten hat und Geld braucht, werden die europäischen Staatsmänner den Zeigefinger erheben und sagen: „Nur jetzt nicht nationale Kleingeisterei betreiben! Der Euro steht auf dem Spiel und mit ihm die EU, die europäische Zivilisation und das ganze Universum!“ Und damit die Europaverdrossenheit der zahlenden Bürger nicht wächst, werden die Politiker wieder so tun, als wäre der erneute Aderlass nicht die Rechnung für die Vernachlässigung ökonomischer Realitäten zugunsten politischer Wünschbarkeiten, sondern eine Notwehr gegen böse Spekulanten.

Das Ausscheiden der Briten aus dem Währungssystem hat den Euro nicht verhindert oder gar die europäische Integration gesprengt. Genauso wäre eine Neudimensionierung der Euro-Zone nicht der Anfang vom Ende Europas – wenn es die richtigen Regeln auch für Rückschritte gibt, die das sonst drohende und tatsächlich Europa verheerende Chaos verhindern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2010)

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