Sex wie im alten Rom

Sind wir mit unseren Lebensweisen wieder in der Antike angekommen? Und sind deswegen das Christentum und seine Moral heute so sperrig?

Mir persönlich hat die intellektuelle Szene im deutschsprachigen Raum eine etwas zu biedere Gleichförmigkeit. Jedenfalls erstaunt es mich immer wieder, dass nonkonformistisch-geistreiche Literatur oft nicht ins Deutsche übersetzt wird. Etwa das Buch „Full Circle“, in dem der britischen Publizist Ferdinand Mount die These ausführt, dass wir heute in „Lifestyle“ und „Mindset“ weniger in einer gänzlich neuen Epoche der Menschheit, sondern vielmehr wieder in der Antike angekommen sind – als seien wir Zeitgenossen von Tiberius oder Sokrates.

„Wir haben“, sagt Mount, „eine Rundreise unternommen. Wir sind rund um den Hafen gesegelt und haben das schimmernde, dunstverhangene, grenzenlose Meer gesehen. Und nun, nach fast 2000 Jahren, sind wir wieder bei der Anlegestelle, von der wir einst aufgebrochen sind.“ In vielen Phänomenen spielt Mount diese These durch – vom Körperkult über die Promi-Verehrung, die Vergötzung der Kunst bis zum Sex. Darauf habe ich vorige Woche angespielt, als ich ausgehend von der Zölibatsdebatte die Frage eines Psychotherapeuten erwähnt habe, wie lange denn die katholische Kirche „eine Sexualmoral nach antikem Modell mit sich weiterschleppen“ könne.

Meine These dazu ist, dass das heutige Problem mit der katholischen Sexualmoral in Wirklichkeit genau daherkommt, dass diese eben nicht das „antike Modell“ ist. Das würde nämlich perfekt in unsere Zeit passen, deren Auffassung von Sex laut Mount irgendwo zwischen der von Aristoteles und der von Lucretius liegt: „einerseits ein natürlicher und Bindungskraft entwickelnder Bestandteil einer gesunden Beziehung und andererseits eine ebenso gesunde, aber emotional wenig Ansprüche stellende Form der körperlichen Betätigung“.

Im Christentum – zumindest im katholischen und orthodoxen – ist Sex aber keine so banale Sache. Das kommt daher, dass es auch die Ehe nicht als die banale Sache sieht, die heute mit so gut auch in die Antike passenden bleichen Vokabeln wie „Beziehung“ oder „Partnerschaft“ beschrieben wird. Die Ehe ist etwas viel Größeres (bitte verzeihen Sie den predigthaften Ton): eine in der Natur des Menschen angelegte Existenzform, in der Mann, Frau, Liebe, Sex und Fruchtbarkeit ein von Gott perfekt gefügtes, ineinander passendes Gebilde ergeben, das die Beteiligten, wenn sie das nur zulassen, zur Heiligkeit führt, also zur Fähigkeit, die Gegenwart Gottes genießen zu können. Okay, das war jetzt vielleicht ein bisschen starker Tobak fürs Sonntagsfrühstück. Aber nächste Woche komme ich dann wirklich darauf zurück, was das alles mit dem Zölibat zu tun hat.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2012)

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