ÖVP: Eine Partei ohne eine kritische Elite

Eine Partei ohne eine
Eine Partei ohne eine c APA HANS KLAUS TECHT HANS KLAUS TECHT
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Die Österreichische Volkspartei steht an einer Weggabelung: Wird sie den Weg der deutschen Christdemokraten wählen oder jenen der untergegangenen Democristiana.

Jubiläen kann man auf die eine oder andere Weise begehen: Anlässlich seines 75. Geburtstags hielt der studierte Theologe und frühere deutsche Arbeits- und Sozialminister unter Helmut Kohl, Norbert Blüm (CDU), in einer viel beachteten Rede in Aachen ein flammendes Plädoyer für sozioökonomische Gerechtigkeit und Solidarität. Damit steht er in einer Reihe vom ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler bis zur aktuellen Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen und vielen anderen mehr.

Tatsächlich: Angesichts einer zunehmend auseinanderklaffenden Schere zwischen Reich und Arm scheint es heute aktueller denn je, Themen wie Arbeit und Soziales nicht nur einer die persönliche Initiative oft erstickenden büro- und technokratischen Sozialdemokratie zu überlassen. Vielmehr haben Gerechtigkeit und Solidarität auch in der auf Personalität gründenden Christdemokratie – nach 1945 (bzw. nach 1989) immerhin der Schöpferin des Modells der (Ökologisch-)Sozialen Marktwirtschaft – im Zentrum der Politik zu stehen.

Im Österreich von heute aber, dessen Geist und Seele so klein wirken wie selten zuvor, treten beide Bewegungen, Sozial- wie Christdemokratie, ideologievergessen und klientelversessen auf. Sie motivieren sich also nicht mehr aus Programmen, sondern orientieren sich nur noch an Interessen. Das Österreich am Nationalfeiertag gegen Ende der Zweiten Republik: ein Staat nicht des Esprits, sondern der Stände und Kammern, der Genossen- und Gewerkschaften. Wo bleibt das Charisma in der Politik?

Ökonomisierung. Historisch betrachtet, hatten in Europa Kommunisten und Sozialisten ab der Mitte des 19.Jahrhunderts einer Sozialisierung der Wirtschaft das Wort geredet. Was aus diesem Wunsch geworden ist, manifestiert sich an der Tatsache, dass wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts dem umgekehrten Phänomen gegenüberstehen – nämlich einer Ökonomisierung der Gesellschaft. Die Forderung Norbert Blüms nach mehr Gerechtigkeit und Solidarität, einer besseren Balance aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen emotionalen Affekten wie rationalen Vektoren, ist also allseits berechtigt und verpflichtet nicht zuletzt seine eigene Parteienfamilie. Ganz aktuell folgt daraus für die CDU-Schwesterpartei ÖVP und deren aktuellstes profundes Papier: Ein europäischer Staat war und ist mehr als ein „Unternehmen 2025“.

Verwegene Alternativen. Nach wie vor liegt einer Polis nämlich nicht das Konzept einer Betriebs-, sondern einer Volkswirtschaft zugrunde, und die Orientierung des Staates am Gemeinwohl geht Hand in Hand mit jener am Wohl Einzelner. Jede Alternative dazu ist verwegen, ja abwegig. Was haben uns die Finanzkrisen rund um 2010 samt allen Protesten der Menschen und Bürger dagegen weltweit anderes gelehrt?

Allein, in Österreich wurden und werden Blüms, Geißlers oder von der Leyens mahnende Worte nicht vernommen. Denn im Gegensatz zur CDU, deren Gliederung Intellektuellen immer wieder Platz genug zum Aufstieg einräumt, macht das bündische System der ÖVP einen Durchbruch kritischer Elite nahezu unmöglich.

Schon 1970 hat Josef Klaus, eine der seltenen Ausnahmen dieser Regel, anlässlich seines vorzeitigen Ausscheidens aus der Politik die Frage gestellt, ob die ÖVP die Grenzen der ständischen Struktur nicht zu eng gezogen habe, um offen genug zu sein für Kreative und Produktive, für Wissenschaftler und Kunstschaffende. Was hat sich aber seither verändert – außer, dass es für die ÖVP heute nicht mehr um den Erhalt der absoluten Mehrheit geht wie damals, sondern um den Verbleib über 20 Prozent?

Dabei ist es ein schwerer Fehler der österreichischen Christdemokratie (so sich die ÖVP denn noch so bezeichnen kann und will), politisch zentrale Begriffe wie Solidarität und Gerechtigkeit gedanken- und gefühllos den angeblichen oder vermeintlichen Arbeiterparteien SPÖ und FPÖ zu überlassen! Ist das der ÖVP bewusst, oder verdrängt sie es? Ja, welche Anstrengungen setzt sie, um die Debatte um Leistungs- und Teilungsgerechtigkeit (sic) bzw. um Solidarität unter- und nicht gegeneinander offensiv zu führen?

Kein Selbstbewusstsein. Vom ständischen Kammerstaat bzw. von Genossen- und Gewerkschaften integrative Antworten in Zukunftsdiskursen zu erwarten ist jedenfalls irrig. Deren partielle Repliken entsprechen nämlich nur jeweils vertretenen Klientelen, jedoch keiner einer Polis insgesamt kohärenten Idee. Um Deutungshoheit überhaupt zu erlangen, fehlt es der ÖVP anders als der CDU an ideologischer Fundierung, Inspiration und Motivation. Kein Wunder, denn die meisten Funktionäre der Bauern-, Händler- und Beamtenpartei haben die programmatischen Werte der Christdemokratie (Personalität, Solidarität, Subsidiarität) im Gegensatz zu den Antrieben der bündischen Gliederung nicht „internalisiert“ (Sigmund Freud). Die ÖVP wäre sohin eine Partei mit schwachem „Über-Ich“ und starkem „Es“. Was darunter leidet, ist jedenfalls ihr „Ich“.

Übersetzt: Die ÖVP hat kein Selbstbewusstsein. Indizien dafür sind, dass brillante ideologische ÖVP-Konzepte der 1990er-Jahre wie die ökologisch-soziale Marktwirtschaft oder der Bürgervertrag im Wortsinn auf Papier gebannt und nicht realisiert wurden. Mit Ersterer hatte Josef Riegler im Bund einer Ökologisierung des Steuersystems samt Belastung des Faktors Vermögen und Entlastung des Faktors Arbeit einen Weg bereitet, mit Letzterem war Erhard Busek in Wien zivilgesellschaftlich fortgeschritten.

Doch leider: Nicht nur wer zu spät, sondern auch wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Weder Riegler noch Busek war ein Politiker des Kairos. Ganz anders etwa als Raab oder Kreisky, Brandt oder Kohl. Dabei steht es international gar nicht so schlecht um die „Europäische Volkspartei/Europäischen Christdemokraten“. Der Austritt bzw. die Absenz der britischen (Cameron), tschechischen (Klaus) und polnischen (Kaczyński) (National-)Konservativen hat der EVP gut getan und nicht nur ihr proeuropäisches Profil geschärft. Mehr denn je ist sie damit auch eine Partei der bürgerlichen Mitte mit ebenso rechtem wie linkem Flügel.

So steht gerade die CDU als stärkstes EVP-Mitglied für ökonomisches und soziales Gewissen ein, ihre Schwesterpartei in Bayern, die CSU, gäbe es ohne die treue Wählerschaft der gelernten und ungelernten Arbeiter längst nicht als Volkspartei. Fast 50 Prozent bescheinigen ihr jüngste Umfragen wieder. Wegen eines vom linken Flügel der CDU vertretenen gesetzlichen Mindestlohns von einer Sozialdemokratisierung der Christdemokratie zu sprechen, verkennt jene Bedeutung der Arbeits- und Sozialpolitik, die der Ideologie immer schon inhärent war:

Von der Enzyklika Rerum Novarum Leos XIII. und deren Wiederaufnahme des Begriffs Christdemokratie aus der progressiven Tradition der Französischen Revolution bis zur Enzyklika Centesimus annus von Johannes Paul II. und deren weitsichtiger Kritik am Konsumismus; vom Ahlener Programm der CDU in der Nachkriegszeit und von dessen umstrittenem Aufruf zum „christlichen Sozialismus“ bis zur Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft, derer sich nun die CDU annimmt und worin Begriffe wie Gerechtigkeit und Solidarität Leitwerte neben Nachhaltigkeit darstellen.

Gerechtigkeit.
Vergessen wir nicht: Anders als bei der Sozialdemokratie ist für die Christdemokratie Gerechtigkeit jener Wert, der sich sowohl an Leistung als auch an Teilung bindet. Freilich: Was nicht geleistet und erbracht worden ist, kann nicht geteilt oder verteilt werden (geschweige denn tautologisch „umverteilt“). Jedoch: Eigentum berechtigt nicht nur, sondern verpflichtet auch. Ebenso wie Besitz nicht nur befreit, sondern auch belastet.

Also: Wird ein prinzipiell auf Mehrwert getrimmtes Papier, das einen Staat nominell als „Unternehmen“ klassifiziert, diesem hehren Anspruch überhaupt gerecht? Zu Beginn war das Wort, und jeder Titel ist Programm.

Um nicht missverstanden zu werden: Es ist richtig, wenn sich die ÖVP (auch) als Wirtschaftspartei verantworteter Freiheit versteht und falsch, wenn sie (nur) im Profitservice gewisser Broker, Banker oder Makler zur Wirtschaftspartie verkommt. Auf die Schwerpunkte kommt es an: Die Ökonomie ist eben nur eine von vielen Facetten der Polis; Soziales, Bildung und Kultur sind weitere! Auch hier müsste sich die ÖVP nach dem Beispiel der CDU ideologisch aufstellen, will sie nicht eine One-Issue-Partei werden, einen Wähleranteil wie in Wien antizipierend, der bald einstellig sein wird.

Nicht einmal die in ihrer Praxis meistens korrupte und in ihrer Theorie oft hypokre Democristiana, die sich mit 28 Prozent anständig auflöste, beging den Fehler, wirtschaftlichen vor gesellschaftlichen Belangen den Vorzug einzuräumen. Nach ihrem Ende spaltete sich ihr linker Flügel ab und bildete mit geläuterten Linken bis heute die Demokratische Partei. Andere aus der Democristiana, jene des rechten Flügels, zog es in Richtung des Massone und Cavaliere di Lavoro (Ritter der Arbeit), Silvio Berlusconi. Welcher Weg ist ein Vorbild für Christdemokraten in Österreich: der deutsche oder der italienische?

DIE AUTOREN

Thomas Köhler studierte Geschichte und Publizistik, Zeitgeschichte und Sozialphilosophie an der Universität Wien, ergänzt um Sprachweiterbildungen an den Universitäten Perugia/Italien sowie Santiago de Compostela und Salamanca/Spanien. Er arbeitet wissenschaftlich und künstlerisch in Wien.

Christian Mertens studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Nach wissenschaftlicher, politischer und journalistischer Tätigkeit arbeitet er seit 1999 in der Wienbibliothek im Rathaus. Er ist Mit- und Alleinkurator mehrerer Ausstellungen sowie Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2012)

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