"Alle acht Kinder mit derselben Frau?"

Alle acht Kinder derselben
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Wir genießen unsere acht Kinder – denn die Mühe liegt nicht darin, so viele Kinder gleichzeitig zu haben, sondern so eine lange Zeit hindurch. Acht Erkenntnisse aus dem Leben in der Großfamilie.

Die Reaktionen fallen ja fast immer ziemlich intensiv aus, aber so entgeistert wie der Engländer war noch niemand. Offizier mit Ausbildung in Sandhurst, dann Reiseleiter einer Adventure-Travel-Agency. Ein welterfahrener Mensch, der nun in einer Werbeagentur arbeitete und mit mir geschäftlich zu tun hatte.

Beim ersten Bier schon die Frage: „Michael, bist du verheiratet?“ Da weiß ich bereits, wie es weitergeht: „Und habt ihr auch Kinder?“ „Mhm.“ Unweigerlich die nächste Frage: „Wie viele?“ „Hht.“ „Pardon?“ „Acht.“ „Verzeih, ich habe ,acht‘ verstanden.“ Dann hilft sowieso nichts mehr: „Ja, es sind acht.“ Normalerweise heißt die nächste Frage: „Alle mit derselben Frau?“ Aber der Engländer hat mich lang fassungslos angeschaut, als hätte ich ihm soeben ein intimes Verhältnis mit einer Tiefseekrake gestanden. Und dann, nach einer Erklärung ringend: „Bist du katholisch?!?!“

Ich: „Ja, schon. Aber mit der Kinderzahl hat das nichts zu tun. Ich bin einfach ein Genussmensch, und Kinder kann man richtig genießen.“ Das stimmt auch. Besonders in den wunderbaren zweiten Lebensjahren – der Zeit, in der der Geist eines Kindes aufgeht wie die Blüten im Frühling – haben wir uns immer gedacht: Bitte, das Ganze noch einmal! Dass Religion nichts damit zu tun hätte, ist doch gelogen. Aber dazu später.


Akuter Rechtfertigungsdruck. Ich weiß eigentlich nicht, warum mir das fast immer gleiche Gespräch über die Kinderzahl peinlich ist. Denn die Reaktion ist, nach dem ersten Schock, immer anerkennend. Allerdings zeigt das Gegenüber oft akute Anzeichen von Rechtfertigungsdruck: „Wir haben ja leider nur drei.“ Darauf ich immer: Jeder soll so viele haben, wie es gut ist. Bei uns sind halt Kinder unser Hobby. Die erste Beobachtung, die ich zum Thema „Kinderreich in der heutigen Gesellschaft“ formulieren will, ist also folgende: Als Eltern vieler Kinder ist man zwar eindeutig abnormal, aber erntet dafür Anerkennung.

Die Anerkennung hat wohl mehrere Gründe. Einer ist sozialversicherungstechnisch. Als ich noch in der „Presse“ arbeitete, kam mich eines Tages meine Frau mit allen acht Kindern in der Redaktion besuchen. Sie standen als scheu und neugierig beäugtes Grüppchen da. Die Kollegenschaft traute sich kaum näher heran. Ein paar lugten auch bei der Tür herein. Und jeder Einzelne sagte, wie verabredet: „Ah, unsere Pensionsversicherung!“

Ein zweiter Grund: Acht Kinder deuten das Vorhandensein exzeptionellen Organisationstalents an. Die typische Aussage dazu lautet: „Also ich bin ja schon mit zwei überfordert.“ Ab da wird das Gespräch einfach, denn mit der Antwort: „Wir waren das auch, aber ab da wird es nicht mehr schlimmer“, kann ich die sichere Flucht ins Anekdotische antreten – eingeleitet durch mein zweites Postulat: Die eigentliche Mühe liegt nicht darin, so viele Kinder gleichzeitig zu haben, sondern so eine lange Zeit hindurch.


18 Jahre Pubertät. Natürlich hat eine so große Kinderzahl ihre Tücken. Schon ab dem dritten Kind passt eine Familie nicht mehr in ein einziges Taxi. Würden wir bei einem Preisausschreiben einen sogenannten „Urlaub für die ganze Familie“ gewinnen, müssten sechs Kinder zu Hause bleiben. An Wandertagen sind manchmal alle Kinder an verschiedenen Plätzen zur gleichen Zeit abzuholen. Und man kann bei einem halben Dutzend Schulkindern nicht mit jedem abends drei Stunden Vokabel lernen, die Vollständigkeit des Pennals überprüfen und den Schal fertigstricken.

Aber anstrengend ist etwas anderes. Unsere Kinder sind nun zwischen 25 und zehn Jahren alt. Wir werden schätzungsweise 18 Jahre lang pubertierende Kinder im Haus gehabt haben. Ununterbrochen. Und wenn der Letzte im Sommer 2021 seine Matura macht, werden wir auf 29 Schuljahre als Eltern zurückblicken können. Mindestens 100 Elternsprechtage und 192 Semester- und Jahreszeugnisse. 29 Jahre ist länger, als mancher Lehrer im aktiven Schuldienst steht. 29 Jahre reichen, um den Unterschied zwischen guten und schlechten Lehrern kennenzulernen – und es gibt mehr gute, als man glaubt.

Aber nach 29 Schuljahren werden wir ziemlich erschöpft sein, meine Frau noch mehr als ich. Auf Kur gehen ist ja während der Schulzeit auch nicht praktikabel. Um das durchstehen zu können, müssen die Eltern eine effiziente Arbeitsteilung vornehmen. In unserem Fall heißt das: Ich bin Alleinverdiener, sie ist Alleinerzieherin.


Kinobesuch nicht unter 130 Euro. Die Kosten sind tatsächlich nicht zu unterschätzen, selbst mit einem Managergehalt. Ein Kinobesuch für die ganze Familie inklusive Popcorn kommt auf 130 Euro. Jedem der Kinder bei H&M eine Hose, ein Hemd und ein Paar Schuhe zu kaufen ist etwa so teuer wie eine Woche Malediven für zwei Personen. Um auf dasselbe Pro-Kopf-Einkommen zu kommen wie ein Doppelverdienerpaar mit zwei Durchschnittsverdiensten und zwei Kindern müsste ich das fünffache Durchschnittsgehalt bekommen. So hoch ist mein Gehalt dann doch wieder nicht. Ich bekomme zwar Kinderbeihilfe, muss dafür aber mehr Steuern zahlen, weil ich mein Gehalt ja nicht mit meiner Frau teile. Wie schaffen das bloß Vielkinderfamilien, die mit noch deutlich weniger Geld auskommen müssen?

Aber Jammern ist fad. Daher nach dem Postulat Nummer drei: Trotz Familienförderung macht Kinderreichtum arm, gleich Postulat Nummer vier: Es war noch nie so machbar, viele Kinder mit wenig Risiko großzuziehen. Mein Versicherungsbeitrag allein sichert zehn Personen ärztliche Versorgung. Alle Kinder bekommen eine ziemlich gute Schulausbildung ohne einen Groschen Schulgeld (außer dem, was sie dauernd für irgendwelche Projekte mitbringen müssen). Das ist eine entscheidende Hilfe.

Hilfe erlebt man überhaupt oft. In der Straßenbahn, sagt meine Frau, hilft außer den Migranten zwar kaum jemand, wenn man mit einem Kind an der Hand, einem Kinderwagen an der anderen und einem dicken Babybauch versucht einzusteigen. Aber der meisten Großzügigkeit begegnet man ohnehin in der näheren und weiteren Verwandtschaft, und man lernt, was es eigentlich heißt, beschenkt zu werden. Und sogar die Bank ist immer noch hilfsbereit, mit deren Geld wir unser basteltechnisch herausforderndes Haus gekauft haben. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass es heute sehr kompliziert geworden ist, zehnköpfige Familien zu delogieren.

Früher gab es allerdings noch Großmütter ohne Berufstätigkeit, im Haus mitwohnende Großväter oder Tanten, Nachbarinnen, die untertags zu Hause waren. Heute sind viele allein auf weiter Flur. Daher das Postulat Nummer fünf, das sehr ernst ist, weil meine Frau und ich in unserer Mischung aus Sorglosigkeit und Chaostoleranz (und tatkräftiger Verwandtschaft) vielleicht das Gegenteil suggerieren: Das Burn-out wurde in Vielkinderfamilien erfunden. Dazu aber Nachsatz sechs: Es hilft sehr, zur Neigungsgruppe Religion zu gehören.

Unsere alte Nachbarin reagierte auf die Nachricht, wir erwarteten unser zweites Kind, ziemlich scharf: „A zweits Kind? In dera Wöd? Mit der Atombombe und der Umweltverschmutzung?“ Leider sind wir damals nicht wirklich ins Gespräch gekommen. Es hätte mich interessiert, warum man dem ersten, aber nicht mehr dem zweiten Kind diese Welt zumuten darf. Es ist mir aber doch klar geworden, dass es offenbar einen großen Unterschied macht, ob man an etwas Größeres glaubt als nur an diese Welt.


Wunschkinder. Da kommt das anfangs erwähnte Katholische herein, eigentlich das Gläubige an sich. Das drückt sich aber nicht so aus, dass wir viele Kinder haben müssen, weil der Papst die Pille verbietet. Unsere Kinder waren Wunschkinder. Und wir waren ja auch nicht immer so fromm und haben gedacht, wir machen uns die Regeln des Glücks lieber selbst. Aber irgendwann wollten wir uns keine Grenzen mehr auferlegen und haben schließlich sogar die ganze komplizierte Frage, ob noch ein Kind und wenn ja, wann, und wenn nein, wann vielleicht doch wieder, dem lieben Gott überlassen. Seitdem sind gar nicht mehr so viele Kinder gekommen. Aber es ist die freieste, glücklichste und liebevollste Zeit unserer ganzen Ehe. Es kommt für uns einer Ahnung von dem schon ziemlich nahe, was in der Bibel „das Leben in Fülle“ heißt.

Dieses hoffentlich nicht zu peinliche Bekenntnis illustriert vielleicht, wie es erleichtert, eine größere Wirklichkeit im Hintergrund zu haben. Zu glauben, dass unsere Kinder nicht nur in dera Wöd leben werden, sondern ihnen die ganze Ewigkeit offensteht. Wir können auch gar nicht klar unterscheiden, ob wir die Kinder dem lieben Gott schenken oder er sie uns. Und das macht die Bedrohungen dieser Welt relativ.

Dazu kommt das Vertrauen auf den Ehepartner, das entsteht, wenn einem die Ehe wirklich etwas Unauflösliches ist. Ich war ziemlich verblüfft, als ich im Büro mein fünftes Kind ankündigte und eine Kollegin zu denken gab: „Aber mit fünf Kindern kannst du sie ja nie mehr stehen lassen, wenn du eine findest, die dir besser gefällt!“ Wäre ich der Mensch, der damit rechnet, seine Frau vielleicht einmal stehen zu lassen, hätte ich mir fünf Kinder ohnehin nie erlaubt. Nicht einmal die vier, mit denen das Stehenlassen offenbar gerade noch vertretbar ist.

Ich bewundere jeden, der sich ohne Glauben auf viele Kinder einlässt. Wobei vielleicht noch mehr die Sorge abschreckend wirkt, dem einzelnen Kind in einer größeren Schar nicht mehr gerecht werden zu können. Und das stimmt. Aber, Postulat Nummer sieben: Das macht nichts. Fast nichts.

Was wir Eltern den Kindern schuldig bleiben, geben sie – hoffe ich – einander. Sie schleifen einander ab und stützen einander. Gerade in der Pubertät macht das die Dinge einfacher. Auch wenn die Eltern mühsam sind, gibt es vielleicht ein vierjähriges Geschwisterchen, mit dem man, liebesbedürftiger Kaktus, der man mit 15 ist, kuscheln kann. Teil eines großen Wir zu sein, macht stark.

Niemand soll beim Lesen ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er null bis sieben Kinder hat. Für jeden gibt es die richtige Zahl. Und natürlich führt das Leben in kleiner Geschwisterschar nicht in die Depression. Es gibt ja auch Freunde. Und Kinderreichtum ist keine Garantie für Lebensglück. Sie kann sogar die Gesundheit gefährden. Ich kenne eine Großmutter, bei der der Chirurg wissen wollte, ob die Betäubung schon wirkt. Er fragte, wie viele Kinder sie habe. Sie: „Drei.“ Er: „Und wie viele Enkel?“ Sie: „32.“ Er: „Wir können anfangen, sie ist schon weggetreten.“ Aber für uns Eltern ist mit vielen Kindern die Wahrscheinlichkeit größer, das Schönste zu erleben: die Momente, in denen die Kinder miteinander fröhlich sind. Die Momente, in denen ich leise ahne, wie sich Gott fühlt, wenn seine Kinder einander lieben.

Nur ganz selten stellt uns dann jemand die traurigste Frage von allen: ob wir denn keinen Fernseher hätten. Wir haben einen; vor allem fürs Bügeln und weil ich nach mühsamen Arbeitstagen gern betrachte, wie irgendwas in die Luft gesprengt wird. Aber die Grundidee ist so trist: dass ein Fernsehapparat etwas von dem ersetzen könnte, was das Leben bietet. Warum traurig die Nase an der Mattscheibe plattdrücken, wenn ich selbst was erleben kann? Postulat Nummer acht: Das Leben in Fülle ist ein Leben vor dem Fernsehapparat nicht.


Kleine Umstellung. Vielleicht kann ich das am Sterben illustrieren. Ein Vorteil der kinderreichen Familie ist, dass ein weiterer Nachwuchs nur eine kleine Umstellung bedeutet. Als die Großmutter meiner Frau ein Pflegefall wurde, kam sie zu uns. Für ihre berufstätigen Kinder hätte das eine komplette Lebensänderung bedeutet. Wir aber hatten schon fünf Kinder. Was macht da schon ein sechster Gast? Ich denke, es war auch für sie gut so, wenn nicht gerade unser kleiner Sohn die Steine entfernt hat, mit der wir auf der abschüssigen, geländerlosen Terrasse ihren Lehnstuhl auf Rädern blockiert hatten.

In ebendiesem Stuhl saß sie auch, als der Tod kam. Ihre Haut wurde wächsern, aber sie atmete noch. Unorganisiert, wie wir nun einmal sind, wussten wir nicht, was tun. Da sagte plötzlich ebenjener Sohn: „Ihr habt uns doch versprochen, dass wir uns von der Urgroßmama verabschieden dürfen, wenn sie stirbt.“ So haben wir uns vor ihr versammelt und ihr reihum die Hand gedrückt und gesagt: „Auf Wiedersehen, Urgroßmama!“ Dann haben wir gemeinsam ein Vaterunser gebetet, und mittendrin hat sie ihren letzten langen Atemzug getan.

So was erlebt man nur in der Großfamilie. So lebt man in der Großfamilie. So wenig mussten wir dafür tun, und so reich sind wir beschenkt!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2013)

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