Aus nationaler Verzweiflung: Die Geburt einer Fiskalunion

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Die Suche nach besseren Voraussetzungen für bessere nationale Kreditwürdigkeit zieht sich durch die europäische Geschichte – und öfter als nicht stand das Bestreben, mit Deutschland zu paktieren, im Hintergrund.

Die Bildung einer Fiskalunion ist in vielen Fällen eine wirksame Methode zur Verbesserung der Kreditwürdigkeit. Überdies kann sie auch ein neues Gefühl der Solidarität zwischen Völkern schaffen, die ein geografisch großes Gebiet bewohnen. Aus diesem Grund haben die Europäer ihren Blick häufig auf das Modell der Vereinigten Staaten geworfen. Doch es gelang ihnen nie, dieses Modell nachzuahmen, weil ihre Beweggründe zur Bildung einer Union so unterschiedlich waren.

Länder, die sich in einer verzweifelten Situation befinden, betrachten eine derartige Union oftmals als den besten Ausweg aus einer Notlage. Im Jahr 1940 schlug Charles de Gaulle angesichts der Bedrohung durch die Nazis, die Frankreich bereits überrollt hatten, eine französisch-britische Union vor, und Winston Churchill akzeptierte auch.

Fünf Jahre nach dem Krieg, im Jahr 1950, schlug Deutschlands erster Nachkriegskanzler, Konrad Adenauer, als Ausweg aus der existenziellen Krise des besiegten Landes ebenfalls eine Union vor – diesmal zwischen Frankreich und Deutschland. Eine politische Union wurde abgelehnt, aber der wirtschaftliche Zusammenschluss hat einen über sechs Jahrzehnte, bis heute dauernden glänzenden Aufstieg erlebt.


Kriegsunion Russland/Frankreich. Der Grundgedanke einer Fiskalunion besteht darin, dass ärmere, weniger kreditwürdige Länder von einer gemeinsamen Schuldenhaftung mit reicheren Ländern profitieren können. Tatsächlich kam einer der faszinierendsten Vorschläge diesbezüglich zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf, als das Russische Reich erkannte, dass es aufgrund seiner begrenzten Kreditaufnahmefähigkeit auf internationalen Kapitalmärkten und seiner geringen Devisenreserven nicht in der Lage war, eine schlagkräftige Armee aufzubauen.

Daher schlug die russische Regierung eine Konstruktion vor, die einer vollständigen Fiskalunion mit Großbritannien und Frankreich für die Kriegsfinanzierung gleichgekommen wäre. Frankreich nahm diese Idee gern an, weil seine Möglichkeiten zur Kreditaufnahme auch begrenzter waren als jene Großbritanniens. Die Briten wollten zwar den Krieg gewinnen – doch der Wunsch war nicht so stark ausgeprägt, als dass man dafür eine unbegrenzte Haftung für die von der französischen und der russischen Regierung aufgenommenen Schulden hätte übernehmen wollen.

In der Realität wäre eine Fiskalunion zwischen derart unterschiedlichen politischen Systemen nicht praktikabel gewesen.

Ein autokratisches oder korruptes Regime hat starke Anreize, das Geld so auszugeben, dass die Eliten davon profitieren. Noch stärker wird dieser Anreiz, wenn das Regime über die Ressourcen eines stärker demokratisch regierten Staates verfügen kann, in dem die Bürger damit einverstanden sind, Steuern (und die zukünftigen Schulden) zu bezahlen, weil sie auch die Regierung kontrollieren.


Solidarität zum Selbstschutz. Demokratien stimmen derartigen Vereinbarungen nur dann zu, wenn ihre Sicherheitsinteressen ganz klar auf dem Spiel stehen. Eine derartige Zwangslage verlieh Russland in der Zeit vor 1914 einen einzigartigen Zugang zu Frankreichs Finanzmarkt. Doch im Jahr 1915 waren die Briten nicht einmal angesichts des laufenden Krieges bereit, Russlands Verbindlichkeiten zu übernehmen. Vielleicht ließ das schiere Ausmaß der Unsicherheit im Europa der Vorkriegszeit oder die eher strukturlose Form der Bedrohung Sicherheitsbedenken bedeutender erscheinen als finanzielles Risiko.

Russlands Kreditarrangements für den Ersten Weltkrieg nahmen einige jener politischen Manöver hinsichtlich Schulden und deren Zusammenhang mit Sicherheit vorweg, die im späten 20.Jahrhundert in Europa in Erscheinung traten. Westdeutschland war in der Zeit nach 1945 lange Zeit verwundbar, weil es sich an der Bruchlinie des Kalten Krieges befand. Aus diesem Grund bot die westdeutsche Regierung Nachbarländern im Gegenzug für Sicherheit und politische Solidarität finanzielle Hilfe an. Dies vor allem zu Zeiten, als man sich hinsichtlich Verlässlichkeit und Kontinuität der Unterstützung durch die USA nicht sicher war.

Doch es gab auch Grenzen. Im Jahr 1979, als Westdeutschland ein festes Wechselkurssystem samt Unterstützungsmechanismus für seine Partner einführte (das Europäische Währungssystem), sorgte die Bundesbank dafür, dass man sich nicht zu unbegrenzten Währungsinterventionen verpflichtete, und dass man aufhören würde, wenn die Stabilität der Deutschen Mark gefährdet wäre.


Eine offene Rechnung für Europa. Diese Logik wiederholte sich zu Beginn der 1990er-Jahre in noch größerem Maßstab, jedoch ohne vorher festgelegte Grenzen. Das Bekenntnis der Europäischen Union zu einer Währungsunion ermöglichte den Mittelmeerländern, ihre Schuldendynamik und Staatsfinanzen dramatisch zu verbessern. Ihre Kreditkosten fielen, als sie ihre Währungen in eine Union mit jenen Ländern – insbesondere Deutschland – einbanden, die über eine bessere Reputation hinsichtlich Stabilität verfügten.

Nicht angesprochen wurde zu diesem Zeitpunkt das Problem, wie die Rechnung aufzuteilen sei, wenn es kostspielig wird. Und die Frage ausufernder Schulden wünschte man sich fort, indem man die Konvergenzkriterien aufstellte (die ohnehin nicht vollständig umgesetzt wurden). Doch seit 2009, als diese Probleme aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten in der Peripherie der Eurozone zu Tage traten, stehen die Europäer vor der gleichen Frage wie einst die Verbündeten des Ersten Weltkriegs. Sind sicherheitsrelevante und politische Interessen so vordringlich, dass diese die Übernahme enormer und unbegrenzter Verbindlichkeiten von politischen Systemen rechtfertigen würden, über die man keine Kontrolle hat?

Da in Europa Frieden herrscht und es keine außerordentliche übergeordnete Sicherheitsbedrohung gibt, ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich die Wähler und die Politiker in den reichen Geberländern dagegen aussprechen, sobald das Ausmaß der Vereinbarung deutlich wird. Doch die ungewisseren sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen Europa sich konfrontiert sieht, könnten genau jene Art einer starken fiskalpolitischen Verbindung erfordern, die Franzosen und Russen vor 1914 zu schmieden bereit waren und die Deutsche und Franzosen 1950 schufen.


Einziger Ausweg: ein neuer Fiskalpakt. Die Auswirkungen für die Gegenwart sind bedeutsam: Der einzig gangbare Weg, um die nötige Ausgewogenheit zwischen Haftung und Sicherheit zu erreichen, sind politische Reformen, die korrupte Oligarchien auflösen und den Anreiz für fiskalischen Leichtsinn schwächen. Ein Ansatz könnte die Befragung der Bürger in allen europäischen Ländern sein, ob sie bereit wären, eine Art von Fiskalpakt einzugehen, der eine strikte Schuldenobergrenze vorsieht.

In Deutschland bezeichnet man diese Lösung als Schuldenbremse. Diese setzt einen tiefgreifenden Prozess voraus, im Zuge dessen Institutionen und die ihnen zugrunde liegenden Annahmen weithin anerkannt werden müssten.

Doch das braucht seine Zeit, wie die Geschichte der USA – der erfolgreichsten aus der Not geborenen Union – deutlich lehrt.

Harold James ist Professor für Geschichte und internationale Angelegenheiten an der Universität Princeton und Professor für Geschichte am European University Institute (Florenz). Er ist der Verfasser von „Making the European Monetary Union“.

Jennifer Siegel lehrt und forscht am Institut für Geschichte an der Ohio State University. Aktuell arbeitet sie an der Erforschung englischer und französischer Darlehen bis 1922.

Princeton, OSU

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2013)

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