Die Idiotie olympischer Werte

OLYMPIA - Olympische Spiele 2014 - Putin
OLYMPIA - Olympische Spiele 2014 - Putin(c) GEPA pictures
  • Drucken

Die Wurzeln des Sotschi-Problems gehen auf Pierre de Coubertin zurück, der die Spiele einst zur Ertüchtigung französischer Soldaten erfand.

Es sollte niemanden überraschen, dass sich die Vorbereitungen für die Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi als völlig überteuert und von Korruption durchsetzt erweisen. Doch die Dimension der Maßlosigkeit ist trotzdem atemberaubend. Die Kosten für die Errichtung von Skipisten, Eissportstätten, Straßen, Hallen und Stadien in einem subtropischen Ferienort am Schwarzen Meer betrugen mehr als 37 Milliarden Euro. Kritiker meinen, dass die Hälfte dieses Geldes entweder gestohlen oder als Schmiergelder an die Spießgesellen von Präsident Wladimir Putin bezahlt wurden, die ganz zufällig die größten Aufträge an Land zogen.

Einer dieser Kritiker, der russische Geschäftsmann Waleri Morosow, behauptet, die Funktionäre in Putins eigenem Büro hätten für Aufträge Schmiergeld verlangt. Nachdem man Morosow mitteilte, dass er „in Blut ertränkt“ werden würde, floh er aus dem Land.

Aber was hat man sich von einem Land erwartet, in dem sich Großkapital, organisiertes Verbrechen und Politik so oft überschneiden? Und abgesehen vom schieren Ausmaß ist Russland wohl kaum das einzige Land, in dem Diebstahl und Bestechung im Rahmen Olympischer Spiele, Formel-1-Rennen (eines soll heuer ebenfalls in Sotschi stattfinden) oder Fußballweltmeisterschaften fröhliche Urstände feiern.

Dann besteht da noch die Frage infamer Gesetze in einem Gastgeberland, welche die Austragung internationaler Sportwettbewerbe möglicherweise ungehörig erscheinen lassen. Als man im Jahr 1936 die Olympischen Spiele in Berlin austrug, waren die Rassengesetze in Nazi-Deutschland bereits ebenso fix etabliert wie die Beschränkungen der Meinungsfreiheit in China im Jahr 2008. In Russland wiederum besteht ein Verbot „homosexueller Propaganda“ – ein von Putin gefördertes Gesetz, das einerseits lächerlich und andererseits so vage ist, dass man unter diesem Vorwand jeden verhaften könnte, der den Behörden unbequem erscheint.

In völliger Verkennung der Einwände seiner Kritiker hat Putin der Welt versichert, dass homosexuelle Athleten und Besucher der Winterspiele absolut sicher wären, solange sie „die Kinder in Ruhe“ ließen. Die Annahme besteht also darin, dass Homosexuelle im Grunde Pädophile seien. Um in Sotschi sicher zu sein, müssen sie sich nur selbst so lange unter Kontrolle haben, bis sie wieder in ihre dekadenten Heimatländer zurückkehren. In Russland werden unterdessen respektable traditionelle Werte hochgehalten. Wie der Bürgermeister von Sotschi, Anatoli Pachomow, der BBC mitteilte, „haben wir in unserer Stadt keine (Homosexuellen, Anm.)“.

Diese Form der Bigotterie, die dazu dient, die ignorantesten Bereiche der russischen Gesellschaft hinter dem Präsidenten zu mobilisieren, indem man ihre Vorurteile bedient, sollte mehr Proteste auslösen, als dies tatsächlich der Fall war. Über 50 internationale olympische Athleten haben bereits öffentlich ihre Ablehnung des Gesetzes formuliert. Es wäre gut, wenn sich trotz des von den russischen Organisatoren erlassenen Verbotes politischer Kommentare noch mehr Sportler dazu äußerten.

Doch das Problem in Sotschi gründet viel tiefer als in den korrupten Machenschaften der Freunde Putins oder der Infamie des Gesetzes über homosexuelle Propaganda. Ob in Brasilien oder Katar bei den Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft oder im Falle Olympischer Spiele in repressiven und autoritären Gesellschaften – es wird immer wieder der gleiche Widerspruch offenkundig.

Auch wenn der Weltfußballverband Fifa und das Internationale Olympische Komitee darauf bestehen, über der Politik zu stehen, so werden ihre Großereignisse doch von Regimes aller Art, auch den weniger respektablen, politisch ausgebeutet. Infolgedessen wird der Sport politisch. Und je mehr Fifa und IOC ihre politische Unschuld beteuern, desto besser für jene Regimes, die internationale Sportveranstaltungen für ihre Zwecke nützen.


Spiele zur Ertüchtigung. Dieser Widerspruch geht zurück bis zu den Anfängen der modernen olympischen Bewegung. Schockiert von der französischen Niederlage nach einem verheerenden Krieg gegen Preußen im Jahr 1871 ging es Baron Pierre de Coubertin zunächst darum, die Mannhaftigkeit französischer Männer durch die Abhaltung organisierter Spiele wiederherzustellen. Später wurde er ehrgeiziger und weitete seine Vision auf andere Länder aus.

In einer so häufig von militärischen Auseinandersetzungen zerrissenen Welt glaubte Coubertin, durch die Wiederbelebung der griechischen Olympischen Spiele der Antike Frieden und internationale Brüderlichkeit erreichen zu können. Von Anfang an beharrte er darauf, dass diese Spiele über der Politik stehen würden, weil Politik entzweiend sei, aber der Zweck der Spiele darin bestehe, die Menschen zusammenzubringen.

Diese Idee kam nicht überall an. Charles Maurras, der Anführer der zutiefst reaktionären Action Française, betrachtete Coubertins Olympische Spiele als angelsächsische Verschwörung zur Zersetzung der Rassenkraft und des Heimatstolzes. Doch er änderte seine Meinung, nachdem er die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit im Jahr 1896 besucht und dort gesehen hatte, dass der internationale Sport eine wunderbare Gelegenheit für aggressiven Chauvinismus schuf, den er über die Maßen schätzte.

Coubertin beharrte allerdings auf seinem Traum unpolitischer Brüderlichkeit. Karl Marx beschrieb eine unpolitische Haltung einst als Form der Idiotie. Im antiken Griechenland, waren „idiōtēs“ Menschen, die sich nur um ihre privaten Angelegenheiten kümmerten und das politische Leben verachteten. Coubertin machte seine Idiotie öffentlich.

Und so kam es, dass der kränkelnde Coubertin im Alter von 73 Jahren, ein Jahr vor seinem Tod, noch eine Rede über die Ideale der Fairness und Brüderlichkeit aufnahm, die 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin im Stadion abgespielt wurde. Unterdessen nutzten Hitler und seine Schergen die Spiele, um das Ansehen des NS-Reichs zu steigern.

Auch damals wurden die Athleten davon abgehalten, ihre Meinung zu äußern. Proteste gegen den Rassismus der Nazis wurden mit gnadenlosen olympischen Lektionen über die unpolitische Natur des Sports erstickt. Auf ein paar Kompromisse ließ man sich ein. Schilder mit Aufschriften, die Juden den Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen untersagten, wurden für die Dauer der Spiele diskret entfernt. Und einige jüdische Athleten wurden sang- und klanglos aus ihren Nationalteams entlassen.

Seit damals hat sich nichts geändert. Das IOC hüllt sich noch immer in das pathetische Mäntelchen unpolitischer olympischer Idiotie, während Putin die Winterspiele für seinen Versuch benutzt, dem zunehmend autokratischen und scheiternden russischen Staat etwas Glanz zu verleihen. Zweifellos werden die Spiele dem Publikum auf der ganzen Welt spannende Momente bescheren. Aber denken wir dabei auch an die Homosexuellen und andere gefährdete Bürger, die unter Putins korrupter und zunehmend despotischer Herrschaft weiterleben müssen, wenn der Tross abgezogen ist.


© Project Syndicate 2014. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.