Zahlenzauber oder seriöse Wirtschaftspolitik?

Statt sich auf oft nicht nachvollziehbare Zahlenunterlagen zu verlassen, sollte die Wirtschaftspolitik auf evidenzbasierte Quellen zurückgreifen. In Österreich gäbe es dafür – nicht nur an den Unis – ausreichend Kompetenz.

Oh! Zahlen! Mit Zahlen lässt sich alles machen!“, erwidert der Walfänger Ned Land in Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“, als Professor Aronnax versucht, mit quantitativen Befunden die Existenz eines Rieseneinhorns zu beweisen. In wirtschaftspolitischen Debatten in Österreich wird auch sehr gern mit Zahlen argumentiert.
So verkündete Vizekanzler und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner im Februar, dass der von der Regierung beschlossene Beschäftigungsbonus bis zu 160.000 neue Arbeitsplätze schaffen werde. Die SPÖ-Niederösterreich hat diese Zahlen sogleich auf die einzelnen Bundesländer heruntergebrochen und rechnet mit 15.000 bis 20.000 neuen Jobs in niederösterreichischen Unternehmen.
Im Online-„Standard“ erschien am 9. März ein Bericht, in dem auf Basis einer Studie der KMU Forschung Austria die infolge der Entsendung von ausländischen Arbeitskräften nach Österreich entgangenen Einnahmen des Staates mit jährlich 1,5 Milliarden Euro beziffert wurden. Am 11. März hieß es in der „Presse“, dass der Brexit die österreichischen EU-Beiträge um 458,61 Millionen Euro steigen lassen werde.

Intransparente Annahmen

Dies veranlasste Außenminister Sebastian Kurz zur Veröffentlichung seines Sparplans für das EU-Budget in der „Kronen Zeitung“. Einmal in die Welt gesetzt, gelten derlei Zahlen oft sogleich als Fakten und finden Eingang in wirtschaftspolitische Debatten.
Diese Zahlen weisen allerdings eine problematische, auf den ersten Blick nicht leicht erkennbare Gemeinsamkeit auf: Sie sind objektiv nicht nachvollziehbar und daher auch nicht seriös zu bewerten. In keinem der genannten Fälle wurden die Annahmen, die der Abschätzung der ökonomischen Folgen zugrunde liegen, transparent gemacht. Beim Beschäftigungsbonus bleibt zum Beispiel unklar, über welchen Zeitraum die 160.000 Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, ob diese Voll- oder Teilzeitstellen sind, ob potenzielle Verdrängungseffekte berücksichtigt wurden, und wie nachhaltig diese Arbeitsplätze sein werden.
Eine seriöse Einschätzung der Studie über die Kosten durch die Entsendung ausländischer Arbeitskräfte nach Österreich ist schon allein deswegen unmöglich, weil die Auftraggeber rund um die Wirtschaftskammer Wien die Studie nicht öffentlich zugänglich machen. Der Artikel im Online-„Standard“ deutet jedoch darauf hin, dass positive ökonomische Effekte wie zum Beispiel die zusätzliche Wertschöpfung im Inland oder die Entsendung österreichischer Arbeitskräfte ins Ausland schlichtweg nicht berücksichtigt wurden.

Blickt man auf die österreichische Leistungsbilanz 2015 (gesamt +6.277 Mio. Euro), so kam es 2015 bei den grenzüberschreitenden Arbeitseinkommen tatsächlich zu einem Nettoabfluss in Höhe von 438 Mio. Euro. Über einen längeren Zeitraum betrachtet, zeigt sich ein anderes Bild: Für die Periode 2005–2015 fällt die Bilanz für Österreich mit einem durchschnittlichen jährlichen Nettozufluss in Höhe von 227 Mio. Euro positiv aus (Quelle: OeNB-Homepage).

Bei der Berechnung der österreichischen EU-Mitgliedsbeiträge nach dem Brexit wird offensichtlich von einer unveränderten Struktur des EU-Budgets und der Nettozahlungen ausgegangen. Ausgabenseitig wird es jedoch nach geltenden EU-Regelungen automatisch zu einer Änderung der Regionalförderung kommen: Aktuell sind nur Regionen mit einem Pro-Kopf-BIP unter 75 Prozent des EU-Schnitts berechtigt, EU-Strukturfondsmittel aus dem Budgettitel „Konvergenz“ zu beantragen. Durch den Brexit wird der EU-Durchschnitt sinken, somit werden bei aktueller Rechtslage weniger Regionen Mittel beantragen können. Auf der Einnahmenseite wird Großbritannien entweder (reduzierte) Mitgliedsbeiträge bezahlen (im Falle eines Soft-Brexit) oder aber Zölle für seine Ausfuhren in die EU (im Falle eines Hard-Brexit). Vor diesem Hintergrund werfen Zahlen mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern.

Sorgfältige Folgenabschätzung

Ein sorgsamerer Umgang mit Folgeabschätzungen ist eine notwendige Bedingung, um eine reflektierte Diskussion über die Angemessenheit wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu ermöglichen. Nur bei Kenntnis der zugrunde liegenden Annahmen kann eine seriöse Bewertung erfolgen, andernfalls sind die kolportieren Zahlen bestenfalls ohne Aussagekraft, schlimmstenfalls irreführend.

Aber nicht nur transparente Ex-ante-Folgenabschätzungen sind nötig; auch ex post muss wiederholt geprüft werden, ob die wirtschaftspolitischen Maßnahmen die intendierten Folgen hatten. Hierzu wäre es notwendig, dass die Politik bei der Implementierung der Maßnahmen bereits mitberücksichtigt, wie eine spätere Evaluierung stattfinden könnte.

Darüber hinaus muss für die empirische Wirtschaftsforschung der Zugang zu den relevanten Datenquellen verbessert und an die Regelungen anderer europäischer Länder angepasst werden. Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellte Novelle des Bundesstatistikgesetzes könnte diese Forderung aufgreifen und die Rahmenbedingungen für die wirtschaftspolitischen Analysen und Beratung substanziell verbessern.

Österreich verfügt ohne Zweifel über ausreichende Kompetenz zur umfassenden Etablierung einer evidenzbasierten Wirtschaftspolitik. Die Politik ist eingeladen, aktiv und ergebnisoffen auf diese Kompetenz zurückzugreifen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2017)

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