Debatte: Missbrauch des Missbrauchs?

(c) AP (Joerg Sarbach)
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Die deutsche Debatte über die Untaten von Priestern wird immer spannender. Betreiben Kirchenkritiker einen "unverhohlenen Missbrauch des Missbrauchs"?

Tom Lehrer, Harvard-Mathematiker und linksliberaler Satiriker, sang 1953 in seiner schwarzen Parodie auf Nostalgie-Schlager „My Home Town“ über die „just plain folks“ seiner Heimatstadt, etwa das Mädchen von nebenan, das nun Geld für etwas verlangt, den Mathematiklehrer, der nach der Schule die „erstaunlichsten Bilder“ verkaufte, oder „the guy who took a knife and monogrammed his wife“. Und dann auch über den „freundlichen Pfarrer Brown, der...“ und da unterbrach Lehrer immer und sagte: „Die Zeile lasse ich besser aus, ich will keine Schwierigkeiten.“ Das Publikum verstand und lachte. Der Geistliche mit dem dunklen, schandbaren Geheimnis war schon damals ein gängiger Typus, der ein gelerntes Set an Assoziationen zum Klingen brachte.

In den Medien funktioniert das natürlich genauso, wie man an der Diskussion in Deutschland sieht. Natürlich sind die Untaten dreier beschuldigter (Ex-)Patres keine taugliche empirische Grundlage für allgemeine Aussagen. Und es fehlen die statistischen Daten, um überhaupt festzustellen, ob dergleichen gerade für den katholischen Klerus typisch ist. Aber ob man nun, wie die linke „taz“, der Meinung ist, dass „in Wahrheit das Bild von der Spitze des Eisbergs durchaus zutreffend ist; der Fingerzeig auf die Individualität der Fälle nichts als heuchlerisch und antiaufklärerisch“, oder nicht – das deutsche Feuilleton hat eine hochinteressante Debatte zustande gebracht, in der es um das Grundverhältnis des Katholischen mit der modernen Welt geht.


Am schärfsten ist das vielleicht in der Kontroverse um Äußerungen des konservativen Augsburger Bischofs Walter Mixa sichtbar geworden, der Missbrauch ein weit verbreitetes gesellschaftliches Übel nannte, an dem die „sogenannte sexuelle Revolution sicher nicht unschuldig“ sei. Ins selbe Horn stieß Joachim Reinelt, der Bischof von Dresden-Meißen, der gefragt hat, „inwieweit die Übersexualisierung unserer Gesellschaft mitverantwortlich ist, krankhafte Auswüchse zu fördern“.

„Ein absurder Gedanke“, quittierte das etwa „Zeit“-Autorin Katharina Schuler: „Die gewandelte gesellschaftliche Moral soll also plötzlich daran schuld sein, dass ausgerechnet Vertreter jener Kirche, die sich immer gegen den Wandel gestellt hat, gegen jede Moral gehandelt haben?“

So absurd findet das aber etwa der katholische Psychiater Manfred Lütz nicht, dessen neuestes Buch „Ist ja irre. Wir behandeln die falschen“ mittlerweile auch auf der österreichischen Bestsellerliste steht. In einem Kommentar, der zuerst in der „FAZ“ und dann im „Osservatore Romano“ erschien, stellt Lütz die „jetzt bekannt gewordenen Altfälle“, aber auch die heutige Debatte in den Kontext ihrer jeweiligen Zeit: 1970 erklärte der angesehene Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch unwidersprochen bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag: ,Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen.‘ Die linke Szene hätschelte die Pädophilen. Bevor sich Jan Carl Raspe in die RAF verabschiedete, pries er 1969 im „Kursbuch“ die Kommune 2, in der Erwachsene Kinder gegen deren Widerstand zu Koitierversuchen brachten. Bei den Grünen gab es 1985 einen Antrag auf Entkriminalisierung von Sex mit Kindern... In diesen Zeiten wurde insbesondere die katholische Sexualmoral als repressives Hemmnis für die ,Emanzipation der kindlichen Sexualität‘ bekämpft.

Erst Ende der Achtzigerjahre haben dann vor allem feministische Beratungsstellen zu Recht klargemacht, dass es keine gewaltfreien sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen gibt. Freilich war es dabei nicht immer einfach, zwischen Bagatellisierung und Skandalisierung einen angemessenen Weg zu finden. Dann ergriff die Welle auch die katholische Kirche, und manche ihrer Vertreter verstanden die Welt nicht mehr. Hatten die Pädophilieentkriminalisierer sie gerade noch ob ihrer rigiden unmodernen Moral lächerlich gemacht, sollten sie jetzt plötzlich wegen ihrer Laschheit die eigentlichen Übeltäter sein.

Auch in der derzeitigen Debatte wird gewöhnlich der gesellschaftliche Kontext ausgeblendet und die katholische Kirche isoliert als Sündenbock für all die abseitigen und skandalösen Träume von Kindersex gebrandmarkt, die in alternativen Kreisen vor vierzig Jahren geträumt wurden. Kirchenkritiker und auch manche Kirchenvertreter ergreifen die willkommene Gelegenheit, ihre üblichen Platten aufzulegen: Die kirchlichen Strukturen, die Sexualmoral, der Zölibat seien schuld. Doch das ist nichts anderes als unverhohlener Missbrauch mit dem Missbrauch, vor allem aber eine gefährliche Desinformation, die Täter schützt.

Die kämpferische katholische Pädagogin und Autorin Christa Meves sieht in einem über das Internet verbreiteten Kommentar die Dinge noch fundamentaler im Zeitgeist angelegt. Für sie hat „Kindesmissbrauch“ eine „spektakuläre Vorgeschichte“, die mit dem „Ruf der 68er-Revolte nach ,Befreiung zur Sexualität‘“ beginne: Über Jahrzehnte hinweg durch exhibierende und pornografische Inhalte besonders in den elektronischen Medien aufgebläht, wurde daraus aber keineswegs für alle die erhoffte lustvolle Befreitheit... Aber vor allem: Eine breite Palette von Sexualsüchten trat auf den Plan. ... Es zeigte sich: Die Moderne hat die Großmacht Sexualität offenbar leichtfertig fehleingeschätzt... Der absolut gesetzte Trieb verselbstständigt sich und zwingt so den Menschen in die Abhängigkeit. Nicht er ist noch in der Lage, den Trieb zu beherrschen, sondern dieser beherrscht ihn.
Insbesonders würde heute die Sexualität vieler Kinder viel zu früh geweckt.
Aus sexualisierten Kindern werden nicht selten sexualsüchtige Erwachsene – besonders unter den Männern. Die zu frühe Stimulierung des Triebs drängt später zu immer gleicher, oft nur scheinbefriedigender Entlastung; denn eigentlich bleibt die Sexualität der so Fehlgeleiteten im Kindsstatus hängen. Auf diese Weise werden pädophile Bedürfnisse geweckt.


Auf der anderen Seite steht die Gegentheorie: Die sexuelle Revolution habe nicht eine Welle von Missbrauch hervorgerufen, sondern sei mitverantwortlich, dass im Gegenteil die Zahl der Missbrauchsfälle rückläufig sei. Denn in einer in Sexualfragen repressiven Gesellschaft sei für verkorkste Naturen das wehrlose Kind oft die einzige Möglichkeit zur Triebbefriedigung gewesen, was sich aber dank der 68er geändert habe. Doch in der katholischen Kirche gehe eine solche repressive Kultur weiterhin einher mit einer den Missbrauch zusätzlich begünstigenden Erhöhung der Person des Priesters. So hat etwa der papstkritische Theologe Hermann Häring im „Tagesspiegel“ geschrieben: Die Kirche hält an Randbedingungen fest, die pädophile Handlungen begünstigen und eine wirksame Prävention schwächen. Erstens ist über die Sakralisierung der priesterlichen Kernfunktion nachzudenken. Sie ist vormodern – und vom Neuen Testament nicht gedeckt. Um das Priesteramt schwebt eine Sphäre des Heiligen und Unberührbaren... Zweitens ist der katholische Klerus von einem intensiven Korpsgeist geprägt. Das fördert die Mechanismen der Geheimhaltung. Der katholische Klerus muss endlich die urdemokratischen Tugenden der Transparenz und Partizipation lernen. Drittens sagen Psychoanalytiker, dass pädophile Neigungen oft mit Ichschwäche, Anlehnungsbedürfnis und dem Willen zur Einordnung einhergehen. Aber stärker als in vergangenen Jahrzehnten fordern die katholischen Seminare und Studienhäuser wieder Unterordnung. Die Braven werden privilegiert und die Rebellen weggeschickt. Viertens ist über den Zölibat zu reden, denn das Problem der Pädophilie lässt sich nicht von dieser Gesamtsituation trennen. Priester haben sich jeder Sexualität zu enthalten. Deren Impulse sind immer präsent, werden aber in eine Tabuzone abgedrängt.


Was den Zölibat betrifft, zeigt interessanterweise die linksliberale „Frankfurter Rundschau“ eine sehr differenzierte Haltung. So kritisiert der seit Mai 2009 amtierende Chefredakteur Joachim Frank, selbst studierter Theologe, zunächst die landläufige Argumentation: In einem Männerkollektiv, das seinen Geschlechtstrieb seit dem Mittelalter mit einem Sexverbot auf Lebenszeit deckelt, wird der Druck im Kessel halt irgendwann übermächtig. Soll sich also keiner wundern, wenn Patres und Pastöre sich an kleinen Jungs vergreifen. Das Argument wirkt so einleuchtend, dass seine bedenkliche anthropologische Prämisse kaum auffällt: Den Sexualtrieb nicht auszuleben wäre demnach kaum möglich ohne gravierende psychische Schäden. Oder anders gesagt: ohne Sex kein normales Leben. Das mag als plausibel erscheinen in einer Gesellschaft, in der die Potenz ständiger Gesprächsstoff ist. Es widerspricht aber aller Erfahrung: Sexuelle Abstinenz kommt in den besten Ehen vor, die meisten Kulturen kennen sozial hoch geachtete Modelle dauerhafter Enthaltsamkeit.

Doch Frank ortet dennoch Probleme – und berührt dabei auch wieder Zeitgeistfragen: Der Klerus spürt, dass seine Lebensform kaum noch verstanden oder gar unter Generalverdacht gestellt wird. Einstmals wesentliche Motive für den Zölibat sind hinfällig geworden, speziell die über Jahrhunderte tradierte Leibfeindlichkeit der katholischen Theologie und ein negatives Frauenbild. Als geistliches Zeichen – ,um des Himmelsreiches willen‘ – ist der Zölibat selbst praktizierenden Katholiken fremd. Ein fast mitleidiges ,Für mich müssen Sie aber nicht so leben, Herr Kaplan‘ bekommen schon die jungen Geistlichen in ihren Pfarreien zu hören.

Damit klafft im Profil des geistlichen Amtes eine gewaltige Leerstelle. Das wiederum hat gravierende Folgen für den Priesternachwuchs: Für welchen jungen Mann ist ein Berufsbild noch attraktiv, das nicht nur mit Dauerstress und struktureller Überforderung aufwartet, sondern obendrein mit schwindendem Rückhalt für eine so existenzielle Entscheidung wie den Verzicht auf Ehe und Familie? Viele Ausbildner wissen um die Gefahr einer Negativauslese und sehen sich mit dem Problem konfrontiert, an eine immer kleinere Zahl von Kandidaten für das Priesteramt immer strengere Maßstäbe anlegen zu müssen. Der Zölibat erweist sich somit sehr wohl als ein Strukturproblem... Doch darüber reden nur die wenigsten Bischöfe offen. Die meisten fühlen sich von Feinden der Kirche und den bösen Medien verfolgt und halten verbissen dagegen.

Tatsächlich hat wenige Tage nach Erscheinen dieses Artikels der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller eine viel beachtete Predigt so begonnen: „In diesen Tagen entfachen kirchenfeindliche Kreise einen medialen Sturm und stellen Kirche und Priestertum unter einen Generalverdacht.“


Am Montag treffen die deutschen Bischöfe zusammen, um über die Sache zu beraten. Die Debatte ist jedenfalls noch lange nicht vorbei. Längst wird sie weitab von den eigentlichen Anlassfällen geführt. So eigneten sich die mutmaßlichen Täter nicht nur nicht für die zu Beginn auch geführte Debatte um die kirchliche Verdrängung von Homosexualität (der eine Pater lebt heute als Familienvater in Südamerika, dem anderen wird auch vorgeworfen, ein 14-jähriges Mädchen „begrapscht“ zu haben). Sie passen auch nicht ins von Häring gezeichnete Bild der Braven mit „Anlehnungsbedürfnis und dem Willen zur Einordnung“: Ehemalige Schüler beschreiben gerade die beschuldigten Patres als unangepasst und modern, die keine Soutane trugen und mit denen man ganz anders reden konnte als mit den alten Priestern – was sie andererseits aber auch noch nicht zu Kronzeugen für die Theorie macht, die Moderne stehe an der Wiege der Missbrauchswelle.

Eine offene Diskussion könnte jedenfalls nicht nur der Kirche nützen. Patrik Schwarz in der „Zeit“: Natürlich gibt es einen Alltagsvoyeurismus der Medienkonsumenten wie der Medienmacher. Und kaum eine Kombination bedient dieses Konsummuster verlässlicher als Kirche und Sex. Gleichzeitig erliegen viele Leser und Zuschauer ähnlichen Ausblendungsmechanismen, wie sie sie bei der Kirche zu Recht beklagen...

Selbst innerkirchlich hat das Klima der Verdrängung mehr Ursachen als nur einen oft zu Unrecht dämonisierten Klerus. Abwehr ist genauso anzutreffen bei der linksgestrickten Gelegenheitskatholikin, die nebenbei den Fair-Trade-Kaffee im Kirchencafé verkauft, wie beim verheirateten Religionslehrer, der eigentlich gewohnt ist, die Defizite seiner Kirche kritisch in den Blick zu nehmen, oder bei den atheistischen Eltern, die sich den katholischen Kindergarten als besonders behüteten Ort ausgesucht haben. Sie alle eint oft der Wunsch, die Kirche als unbefleckten Raum freizuhalten von den Sauereien der Welt. In dieser Wirklichkeitsverweigerung unterscheiden sich die geschlossene ,Täterinstitution Kirche‘... und die offene Gesellschaft weniger, als es Letzterer recht sein kann. Auch im Fall der ,Täterinstitution Familie‘, in der sich statistisch die größte Anzahl von Missbrauchsfällen ereignet, ist die Neigung zur Aufklärung oft gering.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2010)

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