Der Traum vom Gelobten Land

Traum Gelobten Land
Traum Gelobten Land(c) REUTERS (FABRIZIO BENSCH)
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Am 2. Mai wäre der ehemalige Feuilletonredakteur der "Neuen Freien Presse", Theodor Herzl, 150 Jahre alt geworden. In Israel scheiden sich an ihm mehr denn je die Geister. Der Linken gilt er gar schon als Postzionist.

Vom Dach ihres Hauses überblickt man den weiten Platz vor der Klagemauer, für den unmittelbar nach dem Sechstagekrieg etwa 135 palästinensische Häuser planiert wurden. Haifa al-Khalidi öffnet die Eingangstür, eine moderne, unprätentiöse Frau Anfang 60, mit stolzen, willensstarken Augen. Unter dem steinernen Torbogen wirkt sie noch kleiner, als sie ist. „Jerusalem ist meine Seele“, sagt sie über das Altstadtviertel, das Theodor Herzl 1898 auf seiner einzigen Palästinareise als einen Ort der „Unmenschlichkeit und Unreinlichkeit“ wahrnahm, den er „zunächst“, wie er sagte, „reinigen würde“. Über die arabische Bevölkerung, gar über ihre Kultur, verlor er kaum ein Wort.

Haifa entstammt einer der nobelsten und einflussreichsten moslemisch-arabischen Familien der Stadt. Die al-Khalidis leben hier seit dem 11., vielleicht auch schon seit dem 7. Jahrhundert und stellten über Generationen Richter, Politiker, Gelehrte. Fast alle Familienmitglieder haben Israel inzwischen verlassen, nur Haifa bewohnt das letzte verbliebene Haus der Familie in Jerusalem; der übrige Besitz wurde „aus Sicherheitsgründen“ enteignet. Und sie hütet den größten Familienschatz, die „Khalidi-Bibliothek“ mit fast 1300, über Jahrhunderte gesammelten, kostbaren arabischen Handschriften und Büchern.


Als Herzl ein gutes Jahr nach dem ersten Zionistischen Weltkongress in Basel, auf dem er den „Judenstaat“ proklamiert hatte, Palästina – zu dieser Zeit Teil des Osmanischen Reichs – besuchte, „lebte man in Jerusalem noch friedlich zusammen“, erzählt Haifa al-Khalidi, „Die Amme meiner Tante war Jüdin.“ Ihr Großonkel Yusuf Diya Pasha al-Khalidi, ein aufgeschlossener und gebildeter Mann, der als Abgeordneter des türkischen Parlaments in Konstantinopel gedient, davor schon Europa bereist und unter anderem acht Monate an der Wiener Orient-Akademie Arabisch gelehrt hatte, schickte sich zu jener Zeit an, Bürgermeister von Jerusalem zu werden. (Er blieb es bis zu seinem Tod 1906.) Yusuf Diya al-Khalidi galt als durchaus philojudäisch. Herzls zionistisches Projekt eines Nationalstaats für die Juden im Gelobten Land beobachtete er jedoch mit Misstrauen und Sorge.

Im März 1899 nahm er deshalb Kontakt zu ihm auf. Dessen Ideen seien zwar grundsätzlich „schön und gerecht“ – „Mon Dieu, historisch gesehen ist es wohl ihr Land!“ –, das Geschick von Nationen werde aber nicht allein von abstrakten Ideen geleitet, „wie rein und edel sie auch sein mögen. (...) Palästina wird heute von anderen Menschen als von Israeliten bewohnt (...) Palästina kann man nicht kaufen. Die Verwirklichung des Zionismus in Palästina würde mehr erfordern als Geld, nämlich Kanonen und Rüstungen“, sah der von Historikern auch „Bismarck von Jerusalem“ genannte al-Khalidi voraus und legte Herzl deshalb schlicht nahe, Palästina „in Ruhe zu lassen“.


Herzl war ein liberaler Humanist, der schon in seinem Manifest „Der Judenstaat“ (1896) von einem universalistischen Staat, dem Miteinander aller Bürger, gleich welcher Religion, träumte. „Er wollte nie einen ausschließlich jüdischen Staat“, sagt die Historikerin Andrea Livnat, die über das „Nachleben Theodor Herzls im kollektiven Gedächtnis Israels“ promovierte. Doch Herzls Denken spiegelt vor allem den Zeitgeist im ausklingenden 19. Jahrhundert wider, das, so Livnat, typisch europäische Überlegenheitsdenken, die Arroganz, die im Kolonialismus der Europäer nichts Verwerfliches sah, sondern im Gegenteil einen „Wall der Zivilisation gegen die Barbarei“ (Herzl in „Der Judenstaat“).

Als Warnung nahm er al-Khalidis Worte darum nicht wahr. „Wenn man eine Anzahl Juden einwandern lässt, die ihre Intelligenz, ihren Unternehmergeist und ihre finanziellen Mittel dem Land bringen“, heißt es in Herzls Antwortschreiben, „so muss es jedermann klar sein, dass das Wohl des gesamten Landes dessen glückliches Ergebnis sein wird. Das ist es, was man verstehen und allen verständlich machen muss. (...) Glauben Sie, dass ein Araber, der in Palästina Land oder ein Haus besitzt, das jetzt drei- oder viertausend Francs wert ist, sehr böse darüber sein wird, wenn der Preis seines Bodens sich erhöht, wenn er sich verfünffacht oder verzehnfacht? Das wird aber notwendigerweise mit der Ankunft der Juden eintreten.“


So oberflächlich und naiv Herzl in dem Briefwechsel aus heutiger Sicht klingen mag, so sehr dürfte er ihn doch beschäftigt haben. In seinem utopischen Roman „Altneuland“ (1902) entwarf er Israel als ein „Versuchsland für die Menschheit“, als eine „bessere Welt“, in der alle in Frieden zusammenleben. In seiner ansonsten jüdisch dominierten Gesellschaft lässt er allerdings nur einen Araber eine wichtige Rolle spielen: Raschid Bey. Die Romanfigur ist Yusuf Diya al-Khalidi nachempfunden.

Für das offizielle Israel war dieser Raschid Bey wohl stets eine vernachlässigbare Größe. Bis heute beruft es sich gerne auf die zionistische Formel „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. „Es gibt hier eine DNA der Nichtwahrnehmung der Palästinenser, die bis zu Herzl zurückreicht. Für viele Jahrzehnte war dieses ,andere Volk‘ geradezu unsichtbar, wir haben es einfach nicht sehen wollen“, kritisiert der ehemalige Knesset-Chef und Buchautor Avraham Burg („Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss“). „Das aber ist eine strategische Dummheit, denn indem man den anderen nicht wahrnimmt, ihn bevormundet und Mauern baut, tut man genau das Gegenteil von dem, was man tun sollte, nämlich sich zusammenzusetzen und zu reden. Das heutige Israel ist nicht, was sich Herzl erträumte.“


Die israelische Politik sieht das anders. Seit einigen Jahren setzt sie wieder verstärkt auf die Integrationskraft des fast schon in Vergessenheit geratenen „Sehers des jüdischen Staates“, wie Herzl auch genannt wird, um die Israelis, deren Kampfgeist in der jüngeren Vergangenheit nachgelassen habe, an ihre Wurzeln zu erinnern. Ein Herzl-Gedenktag wurde per Gesetz verordnet.

„Die rechte Seite beruft sich auf den ,Judenstaat‘, um ihr Festhalten an einem jüdischen Staat zu begründen, der seinen jüdischen Bürgern vor der arabischen Minderheit klar den Vorzug gibt“, sagt Andrea Livnat. Nur so kann sich die Mehrheit der Israelis ein Leben in Sicherheit, umgeben von arabischen Nachbarn, die Israel sein Existenzrecht absprechen, vorstellen. „Die Linke hingegen argumentiert mit Herzls ,Altneuland‘, fordert Gleichberechtigung für alle Bürger und die Trennung von Religion und Staat. Manche Linke gehen so weit, Herzl als den ersten Postzionisten zu bezeichnen, der eben einen demokratischen Staat für alle seine Bürger im Auge hatte.“

Im „Judenstaat“ plädierte Herzl dafür, die Geistlichen in den Gotteshäusern zu lassen und die Soldaten in den Kasernen. „In der israelischen Politik ist das Gegenteil der Fall“, stellt auch Avraham Burg fest. „Ich habe meine Zweifel, dass Herzl, würde er sich heute in der Knesset zur Wahl stellen, eine Mehrheit bekommen würde.“ Denn das ist unbestreitbar. Er sah sein Volk ohne „kriegerischen Geist“, wie er in seinem Antwortbrief an Yusuf Diya al Khalidi schrieb. „Sie sind vielmehr ein durchaus friedfertiges Element und sehr zufrieden, wenn man sie in Ruhe lässt.“ Und er ließ keinen Zweifel daran, dass die heiligen Stätten „ein für allemal die Fähigkeit verloren haben, ausschließlich einer Konfession, einer Rasse oder einem Volk zu gehören. Der Frieden auf der Welt, den alle Menschen so innig wünschen, wird sein Symbol in einem brüderlichen Bündnis über die heiligen Stätten haben.“

Die TV-Dokumentation „Der Traum vom Gelobten Land. Theodor Herzl und das heutige Israel“ von Monika Czernin und Melissa Müller wird im Mai dieses Jahres von ORF und ZDF ausgestrahlt.

Monika Czernin
1965 in Klagenfurt geboren, studierte Philosophie, Politik und Pädagogik, arbeitete für den ORF und als Kulturredakteurin bei der „Presse“. Sie ist heute freie Autorin für deutschsprachige Magazine und Fernsehsender.

Melissa Müller
1967 in Wien geboren, ist freie Journalistin und Schriftstellerin. Mit ihren Büchern „Das Mädchen Anne Frank“ und „Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben“ mit und über Traudl Junge erregte sie international Aufsehen.
Achim Bunz, R. Salat

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)

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