Das Böse und seine Proponenten

Boese seine Proponenten
Boese seine Proponenten(c) AP (Matthias Rietschel)
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Warum das Böse ins Spiel gebracht wird: eine Reflexion über Verantwortung trotz Umwelteinflüsse und Determiniertheit trotz der Behauptung völliger Autonomie des Handelns. Und darüber, ob man eigentlich Oliver Twist wegen seines Gutseins bewundern kann.

Vor 15 Jahren haben zwei Zehnjährige im Norden Englands ein Kleinkind, James Bulger, gequält und umgebracht. Einer der ermittelnden Polizisten erklärte, sowie er eines der beiden Täter ansichtig geworden sei, habe er das Böse erblickt. Sachen wie diese sind es, die dem Bösen eine üble Nachrede verschaffen. Die Absicht hinter dieser Dämonisierung des Buben war, den weichherzigen Liberalen einen schlechten Start zu geben. Es war ein Präventivschlag gegen jene, die sich auf soziale Bedingungen berufen hätten können, um zu verstehen, warum die Buben das getan haben. Und so ein Verstehen kann ja immer auch ein Verzeihen nach sich ziehen. Der Tat das Böse umzuhängen bedeutete, dass sie sich jenseits der Begreifbarkeit abspielte: Das Böse ist nicht verstehbar. Es ist einfach eine Sache in sich, wie etwa einen überfüllten Pendlerzug zu besteigen, wenn man nur eine riesige Boa Constrictor am Leibe trägt. Es gibt keinen Kontext, der es erklären könnte.

Das Böse wird oft als etwas ohne Sinn und Ordnung gesehen. Ein englischer evangelikaler Bischof schrieb 1991, dass zu den klaren Zeichen satanischer Besessenheit Dinge gehören wie unangebrachtes Lachen, unerklärliches Wissen, ein falsches Lächeln, schottische Vorfahren, ehemalige Kohlenarbeiter als Verwandte und eine Neigung zu schwarzen Kleidern oder Autos. Nichts davon ergibt einen Sinn, aber so ist es nun einmal mit dem Bösen. Je weniger Sinn es hat, desto böser ist es. Das Böse hat keine Beziehungen zu irgendetwas außerhalb seiner selbst, wie etwa einem Grund.

Tatsächlich hat das Wort unter anderem die Bedeutung von „grundlos“ erlangt. Wenn die Killerkinder aus Langeweile, wegen schlechter Wohnverhältnisse oder Vernachlässigung durch die Eltern gehandelt hätten, dann – so hat vielleicht der Polizist befürchtet – war ihnen das, was sie taten, durch Umstände aufgezwungen. Und sie könnten dann nicht so schwer bestraft werden, wie er das vielleicht gewünscht hat. Das impliziert fälschlicherweise, dass eine Tat, die einen Grund hat, nicht frei begangen werden kann. Kausalitäten sind in dieser Sicht Formen von Zwang: Wenn unsere Taten Ursachen haben, sind wir für sie nicht verantwortlich. Das Böse hingegen wird als ursachenlos gedacht, oder als seine eigene Ursache. Das ist eine von mehreren Ähnlichkeiten, die es mit dem Guten hat. Abgesehen vom Bösen sagt man nur von Gott, dass er seine eigene Ursache ist.

Die Sicht des Polizisten enthält eine Art Zirkelschluss: Menschen tun böse Dinge, weil sie böse sind. Manche Leute sind böse auf dieselbe Weise, wie manche Sachen mitternachtsblau sind. Sie begehen ihre bösen Taten nicht zu einen bestimmten Zweck, sondern nur wegen der Art Mensch, die sie sind. Kann das nicht heißen, dass sie eben gar nicht anders können? Für den Polizisten ist die Idee des Bösen eine Alternative zu einem solchen Determinismus. Aber es scheint, dass wir den Determinismus des Umfelds nur weggeworfen haben, um ihn durch einen des Charakters zu ersetzen.

Leute wie dieser Polizist sind also in Wirklichkeit Pessimisten. Wenn es Satan ist, mit dem du es zu tun hast, und nicht ungünstige soziale Bedingungen, dann erscheint das Böse unbesiegbar. Und das sind demprimierende Neuigkeiten für – unter anderem – die Polizei.


Böse Gene. Wenn die jungen Mörder nichts dagegen tun konnten, böse zu sein, ist es aber eine Tatsache, dass sie unschuldig sind. Die meisten von uns anerkennen natürlich, dass Kinder genauso wenig von Grund auf böse sein können wie geschieden oder Partner in einem Handelsgeschäft. Aber es gibt immer auch jene, die an böses Blut oder üble Gene glauben. Wenn manche Menschen wirklich böse auf die Welt kommen, dann sind sie für diesen Umstand aber genauso wenig verantwortlich, als wenn sie mit zystischer Fibrose geboren worden sind. Der Umstand, der sie eigentlich verdammen hätte sollen, befreit sie dann nur von ihrer Schuld.

Wer jemanden für dessen Böses bestrafen will, muss also voraussetzen, dass er aus freiem Willen böse ist. Vielleicht haben sie ja ohne Zwang das Böse als ihr Ziel gewählt, wie Shakespeares Richard III. mit seinem trotzigen „...bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden“ oder der Satan in Miltons „Paradise Lost“ mit seinem „Das Böse sei mein Gutes“ oder Jean-Paul Sartres Götz im Stück „Der Teufel und der liebe Gott“ mit seinem Angeberspruch „Ich tu Böses um des Bösen willen“. Trotzdem kann man immer auch behaupten, dass solche Menschen, um sich bewusst für das Böse entscheiden zu können, bereits böse sein müssen. Vielleicht entscheiden sie sich irgendwie für das, was sie bereits sind.


Der eiserne Oliver. Die Verwendung des Begriffs „böse“ durch den Polizeibeamten war klarerweise ideologisch. „Böse“ kann hier übersetzt werden mit „verantwortlich für seine eigenen Handlungen“– genauso wie das Gegenteil, das Gute. „Gut“ wird ja auch bisweilen als frei von jeder sozialen Konditionierung gedacht. Der größte der modernen Philosophen, Immanuel Kant, hat diese Ansicht vertreten. Darum bleibt Dickens' Oliver Twist unbefleckt von alldem zwielichtigen Treiben des kriminellen London, in das er hineingetaucht wird. Oliver verliert niemals seine Freundlichkeit, moralische Rechtschaffenheit und geheimnisvolle Fähigkeit, englische Hochsprache zu sprechen, obwohl er im Armenhaus aufgewachsen ist. (Von seinem Freund Jack Dawkins, dem „Artful Dodger“, würde man vermuten, dass er selbst dann breites Cockney spräche, wenn er in Schloss Windsor erzogen worden wäre.) Aber das ist nicht deswegen so, weil Oliver ein Heiliger wäre. Nein, wenn er immun gegen die verderblichen Einflüsse der Diebe, Schläger und Dirnen ist, dann weniger, weil er moralisch überlegen wäre, sondern weil seine Gutheit irgendwie genetisch ist – vom formenden Einfluss der Umstände ebenso unangefochten wie Sommersprossen oder strohblondes Haar.

Aber wenn Oliver gar nicht anders kann als gut zu sein, ist seine Tugend nicht bewundernswerter als etwa die Größe seiner Ohren. Außerdem: Wenn es die Reinheit des Willens ist, die ihn immun gegenüber der Bosheit der Unterwelt macht, kann dann die Unterwelt wirklich so sehr boshaft sein? Würde es nicht einem wirklich hinterhältigen Fagin doch gelingen, diesen Willen zu korrumpieren? Lässt nicht die unangefochtene Tugend des Kindes den alten Schurken vom Haken? Auch könnten wir uns angesichts Olivers undurchdringlicher Unschuld fragen, ob wir wirklich ein Gutsein bewundern, das nicht auf die Probe gestellt werden kann. An der altmodischen puritanischen Vorstellung, dass sich die Tugend in mühsamem Kampf gegen ihre Feinde beweisen und sich dabei in gewissem Maß deren verderbter Macht aussetzen muss, ist schon was dran.


Zombies oder gar Sowjetbürger. Soweit es um Verantwortung geht, haben Kant und ein Boulevardblatt rechts der Mitte wie etwa die „Daily Mail“ einiges gemeinsam. Moralisch gesprochen sind beide der Meinung, dass wir vollständig verantwortlich sind für das, was wir tun. In der Tat wird eine solche Eigenverantwortung als die eigentliche Essenz von Moral angesehen. In dieser Sichtweise sind Verweise auf die sozialen Bedingungen bloß eine faule Ausrede. Es ist diese Doktrin der absoluten Eigenverantwortung, die zur Überfüllung der Todeszellen in amerikanischen Gefängnissen beigetragen hat: Menschen müssen als gänzlich autonom (wörtlich: sich selbst Gesetz) angesehen werden, denn das Behaupten eines Einflusses von sozialen oder psychologischen Faktoren auf ihr Tun hieße, sie auf Zombies zu reduzieren. In der Zeit des Kalten Krieges war das das Äquivalent der Reduktion auf das Schrecklichste von allen: Sowjetbürger. Daher müssen Killer mit einem Intelligenzalter von fünf Jahren oder geprügelte Ehefrauen, die sich gegen ihre Männer wenden, schuldig sein wie Goebbels. Besser ein Monster als eine Maschine.


Shakespeares Schurken. Es gibt aber keine absolute Unterscheidung zwischen beeinflusst sein und frei sein. Viele der Einflüsse, die auf uns wirken, müssen interpretiert werden, um Auswirkungen auf unser Verhalten zu haben – und Interpretation ist eine kreative Angelegenheit. Es ist nicht so sehr unsere Vergangenheit, die uns formt, als vielmehr die Vergangenheit, wie wir sie (bewusst oder unbewusst) interpretieren. Und wir können immer zu unterschiedlichen Entschlüsselungen kommen. Außerdem: Jemand, der frei aller sozialen Einflüsse wäre, wäre genauso eine Nichtperson wie ein Zombie. Er oder sie wäre nicht einmal im Mindesten ein menschliches Wesen. Verantwortlich zu sein heißt nicht, frei von sozialen Einflüssen zu sein, sondern mit solchen Einflüssen auf bestimmte Weise umzugehen. Man muss mehr sein als nur ihre Marionette. „Monster“ bedeutet in manchen alten Vorstellungen unter anderem eine Kreatur, die vollkommen unabhängig ist von anderen.

Menschen können in der Tat einen gewissen Grad von Selbstbestimmtheit erlangen. Aber sie können dies nur in einem Kontext der tieferen Abhängigkeit von anderen ihrer Art, einer Abhängigkeit, die sie erst wirklich zu Menschen macht. Genau das ist es, was das Böse verneint. Im Shakespeare-Drama sind die, die behaupten, nur von sich selbst abhängig zu sein, und die alleinige Autorenschaft über ihr Sein beanspruchen, fast immer Schurken. Man kann also die absolute moralische Autonomie des Menschen als eine Art, sie als böse zu verurteilen, postulieren – aber wenn man das tut, leistet man einem Mythos Vorschub, auf den die Bösen selbst mächtig hereingefallen sind.


Ghouls, Vampire und Beckett. Im Gesamten gesehen haben die postmodernen Kulturen, trotz ihrer Faszination für Ghouls und Vampire, wenig zum Bösen zu sagen. Vielleicht ist das so, weil dem postmodernen Mann oder der Frau – cool, unverbindlich, entspannt und ohne Mitte – die Tiefe fehlt, nach der wirkliche Destruktivität verlangt. Für den Postmodernismus gibt es eigentlich nichts, was erlöst werden muss. Für Spätmoderne wie Franz Kafka, Samuel Beckett oder den frühen T. S. Eliot gibt es tatsächlich etwas zu erlösen, aber es ist unmöglich geworden zu sagen, was eigentlich. Die desolaten, verwüsteten Landschaften Becketts sehen wie eine Welt aus, die nach Erlösung schreit. Aber Erlösung setzt Sündhaftigkeit voraus, und Becketts verbrauchte, ausgeweidete Figuren sind zu sehr in Apathie und Trägheit versunken, um auch nur milde amoralisch zu sein. Sie bringen nicht einmal die Kraft auf, sich aufzuhängen, geschweige denn, ein Dorf unschuldiger Zivilisten anzuzünden.

Und es stimmt, dass manche Liberale und Humanisten die Existenz des Bösen verneinen – weitgehend deshalb, weil sie das Wort „böse“ als ein Werkzeug zur Dämonisierung derer ansehen, die in Wirklichkeit nicht mehr sind als sozial glücklos. Man könnte das die Sozialarbeitertheorie der Moral nennen. Das ist zwar ein affektierter Begriff. Aber die Idee des „Bösen“ aus diesem Grund zu verwerfen funktioniert nun einmal besser, wenn man an arbeitslose Heroinabhängige im Sozialwohnbau denkt als an Serienmörder oder die SS. Es ist irgendwie schwer, SSler als bloß sozial glücklos anzusehen. Man sollte achtgeben, dass man nicht mit den straffälligen Teenagern auch die Roten Khmer vom Haken lässt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2010)

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