Sehr geehrte Frau Jelinek!

Warum lässt Elfriede Jelinek in ihrem bei den Festwochen aufgeführten Stück »Rechnitz (Der Würgeengel)« Realität, Wahrheit und Dichtung verschwimmen? Ein gefährliches Spiel.

In Ihrem Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“, das dieser Tage im Rahmen der Wiener Festwochen aufgeführt wird, nehmen Sie direkt Bezug auf ein geschichtliches Ereignis: die Ermordung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern in Rechnitz im März 1945. Für viele Menschen ist Ihr Stück ein wichtiges literarisches Beispiel der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit dem Holocaust.

Tatsächlich scheint die Frau unseres Großonkels, Margit Batthyány, geb. Thyssen-Bornemisza, zwei Hauptverdächtige dieser Tat, den SS-Hauptscharführer und Gestapobeamten Franz Podezin und ihren damaligen Geliebten, den Gutsverwalter Hans Joachim Oldenburg, nach dem Krieg bewusst gedeckt zu haben.

Es geht uns in diesem Brief nicht darum, die Frau unseres Großonkels zu verteidigen. Dies wollen und können wir nicht tun. Wir fühlen uns jedoch als entfernte Verwandte – durch ihre Verstrickung in die Geschehnisse – besonders aufgefordert hinzusehen und womöglich das eine oder andere ins richtige Licht zu rücken.

Seit unserem Erfahren der Geschehnisse in den letzten Jahren sind wir zutiefst betroffen – so sehr dieses Wort selbst bereits abgenutzt und heute oft zu leicht dahergesagt wird. Und wir fragen uns: Wie konnte es dazu kommen? Was ist damals wirklich geschehen? Wie ist mit den ungeklärten Fragen zu Täter und Tathergang umzugehen? Und: Was wusste Margit Batthyány tatsächlich? Hätte sie, wenn sie wollte, die Ermordung verhindern können? Und noch viele andere Fragen stellen sich uns. Auf sie wissen wir keine Antworten. Dieses Massaker aber legt uns eine Wunde offen. Sie zeigt auf die tausenden Opfer des Südostwallbaus, auf die Todesmärsche von Ungarn nach Mauthausen. Wir hoffen, dass das Gedenken an diese Opfer immer mehr gepflegt wird und das Grab der Ermordeten von Rechnitz, das bis heute unentdeckt geblieben ist, eines Tages gefunden wird.


Fest steht, dass in der Nacht vom 24. auf 25. März 1945 mehr als 180 jüdisch-ungarische Zwangsarbeiter in Rechnitz umgebracht wurden. Auch feierten an jenem Abend in einem Wirtschaftsgebäude des von der SS requirierten Schlosses unserer Großtante Gestapo-Führer und einheimische Getreue des Nazi-Regimes ein „Gefolgschaftsfest“.

Der Historiker Walter Manoschek fasste im Vortrag „Rechnitz, März 1945– Taten und Täter“ (23.4.2009) im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Elfriede-Jelinek-Forschungszentrums, bei dem wir selbst anwesend waren, die geschichtlichen Hintergründe folgendermaßen zusammen: „Am (...) 24.März wurden 600 ungarische Juden per Bahn von Köszeg ins burgenländische Burg transportiert. (...) Im Bahnhof Burg wurden etwa 200 der Deportierten ausgesondert und per Bahn nach Rechnitz umgeleitet. Sie waren zu schwach oder zu krank, um zu arbeiten oder den Marsch nach Mauthausen anzutreten. (...) Mit Sicherheit steht fest, dass der Bahnhofsvorstand von Rechnitz am frühen Nachmittag des 24.März 1945 von der Kreisleitung Oberwart den Auftrag erhielt, eine Zugsgarnitur nach Burg zu schicken, um etwa 200 arbeitsunfähige Juden nach Rechnitz zu transportieren. (...) Ob zu diesem Zeitpunkt bereits deren Ermordung geplant war, bleibt hingegen ungewiss.

Am frühen Abend begann das Gefolgschaftsfest im Schloss Batthyány. Es fand nicht im großen Festsaal des Schlosses, sondern in einem Raum der Gutsverwaltung im Erdgeschoß statt, in dem auch die Kanzlei des Stellungsbaus untergebracht war. Als Festgäste fand sich die lokale NS-Elite ein. Organisiert wurde das Fest vom Unterabschnittsleiter Josef Muralter. (...) Was von Beginn des Festes am Abend des 24. März bis zur Ermordung der Juden in den frühen Stunden des 25. März im Einzelnen vor sich gegangen ist, konnte das Gericht nicht zweifelsfrei klären. (...)

Faktum ist, dass Franz Podezin im Laufe des Abends einen Anruf erhalten hat. Daraufhin beauftragte er Hildegard Stadler, die als Kanzleikraft bei der Abschnittsleitung tätig war, etwa zehn bis 13 Festteilnehmer in ein Magazin zu führen, wo ihnen Podezin eröffnete, dass die am Bahnhof befindlichen Juden von ihnen erschossen werden würden. Podezin verteilte Munition, und die Männer verließen das Schloss in bereitstehenden Pkw. Welche Personen mit Podezin und Stadler im Magazin anwesend waren, ist nicht geklärt. (...)

Eine undurchsichtige Rolle spielte der Gutsverwalter Hans Joachim Oldenburg. Er war nach Zeugenaussagen am Nachmittag des 24. März mit Podezin am Bahnhof, um die Juden in Empfang zu nehmen. Ebenso dürfte er beim Gefolgschaftsfest anwesend und nach (widerrufenen) Zeugenaussagen auch bei der nächtlichen Erschießung dabei gewesen sein. (...) Die Verstrickung von Oldenburg lässt allerdings nicht automatisch darauf schließen, dass das Grafenpaar Batthyány in einem direkten Zusammenhang zu den Mordaktionen stand.“ – So weit, vereinfacht und verkürzt, die Wiedergabe einiger Fakten zur Mordnacht.


Wie wurde und wird heutemit diesem Wissen und Nichtwissen tatsächlich umgegangen? Wie wird darüber geschrieben?

Neben vielen seriösen, sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzenden Berichten finden sich auch Schlagzeilen wie: „180 Tote als Partyeinlage“, „Das Mordfest auf Schloss Batthyány“, „Gräfin bläst zur Menschenjagd“ oder „Thyssen-Gräfin ließ auf Nazi-Party 200 Juden erschießen“. „Es war unbestritten ein Massenmord“, sagt Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, „aber nicht aus einer Partylaune heraus. Überall wurden damals Marschunfähige umgebracht“ („Der Spiegel“, 22.10.2007).

Wir nehmen wahr, dass hier der eine oder andere Bericht – oftmals an den Fakten vorbei – zu einem Boulevardjournalismus geführt hat, der Gefahr läuft, das Verbrechen selbst zu missbrauchen. Und tatsächlich trägt der Fokus auf „Schloss“, „Fest“, „Gräfin“ zum Sensationswert dieses Geschehens bei. „Die Toten, denen so Furchtbares angetan wurde“, schreibt etwa Silvia Stammen in der „Zeit“ vom 6.12.2008, „sind auch jetzt wieder nur namenlose Objekte einer Berichterstattung, deren Newswert erheblich steigt angesichts der möglichen Beteiligung einer schießlüsternen Gräfin an den Verbrechen.“ Erfassen solche Schlagzeilen, erfasst ein solcher Blick auf das Geschehen, fragen wir, das Wesentliche? Ist eine gewissenhafte Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und mit der Geschichte– die auch der Opfer würdig ist – so möglich?


Warum schreiben wir Ihnen dies, Frau Jelinek?

Wir schreiben Ihnen, da Ihr Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ sich, in unserer Wahrnehmung, ebenso dieser Inszenierung und eines gewissen Sensationalismus bedient. Und wir wissen, dass jedes Wort von Ihnen als Nobelpreisträgerin sehr ernst genommen wird. In Ihrem Stück ist beispielsweise zu lesen: „Erst als sich die Frau Gräfin selber auch ein Gewehr nahm“, „Diese Männer werden zur Abwechslung einmal anders vernichtet. Die Frau Gräfin richtet das Richtige ordentlich an“, „die Frau Gräfin teilt ja schon die Waffen aus“, „Die Frau Gräfin trat mit ihrer Flinte vor ihn hin“, „Auch dass die Frau Gräfin sich die Haare der von ihr Erschossenen in ein Kissen hat stopfen lassen, ist ein Gerücht“, „die Frau Gräfin Margit, (...) den Fuß stemmt sie in seine Rippen, das darf sie, schließlich hat sie ihn ja auch geschossen, sie reißt ihm die Schulter aus dem Arm (...). Nicht durch Leibeskraft hat sie den Mann da erledigt, (...) sondern durch Feuerkraft (...)“ etc. Auf dem Umschlag der Veröffentlichung des Stückes „Rechnitz (Der Würgeengel)“ ist zu lesen: „In ,Rechnitz (Der Würgeengel)‘ feiert kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs eine elegante Gesellschaft ein Fest, in dessen Verlauf, aus einer Laune heraus, fast 200 jüdische Zwangsarbeiter erschossen werden – ein Verbrechen, das bis heute nicht aufgeklärt wurde.“– Kann ein solches Verbrechen, fragen wir, nur wahrgenommen werden, wenn es – verfälscht – als „Partylaune“ auf einem Schloss und mit einer Gräfin als Massenmörderin inszeniert wird? Wird nicht dadurch ein Mythos geschaffen, der das tatsächlich Geschehene, die Opfer und die Täter und die Ohnmacht, dass wir weniger wissen, als uns lieb ist, unter sich begräbt? „Was Jelinek bei aller – bewusst enervierenden – Geschwätzigkeit, Redundanz, Wortwitz- und Leerlaufrhetorik virtuos vorführt“, schrieb Christine Dössel in der „Süddeutschen Zeitung“ über „Rechnitz (Der Würgeengel)“ (30.11.2008), „sind die Abgründe unseres Sprechens, ist das beredte Verschweigen, das Darüberhinwegreden, die Kunstfertigkeit, sich die Wahrheit diskutierend und scheinbar reflektierend vom Leib zu halten.“

Warum haben wir das Gefühl, dass Ihr Stück genau das tut: dem Leser oder Zuschauer die Wahrheit vom Leib zu halten? Es macht uns nachdenklich, dass die Art und Weise, wie Sie hier ein geschichtliches Ereignis verarbeiten, Menschen, die sich ernsthaft mit diesem Massenmord auseinandersetzen möchten, womöglich auf eine falsche Fährte führen kann. Im Blick bleiben: ein Schloss, ein Fest, ein Massaker und eine „Gräfin“, die selbst beim Morden Hand anlegt.

Das Eintreten gegen Rassismus und für Menschenwürde hat doch auch zu tun mit dem Kampf gegen Mittel der Vereinfachungen, der Vorurteile und der Klischeebilder. Sollten wir nicht bei der Aufarbeitung der Geschichte ebensolche Mittel vermeiden? Das Verschwimmen von tatsächlichem Realitätsbezug, von Wahrheit und Dichtung ist ein gefährliches Spiel, das womöglich verführerisch eher zu mehr Nebel als zu mehr Klarheit führt. Ihr Stück macht gewiss auf etwas aufmerksam, es lenkt den Blick auf etwas Reales, Schreckliches. Das Wichtige aber– und die Fakten – verschwimmen vor den Augen. Das aber ist traurig und gefährlich. Bitte helfen Sie mit, nicht nur Aufmerksamkeit zu bewirken, sondern auch Klarheit.

Mit freundlichen Grüßen

Dominik Batthyány

Ladislaus E. Batthyány

Dominik Batthyáni (geboren 1971) und Ladislaus E. Batthyáni (geboren 1970) leben und arbeiten in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2010)

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