Das zwangsläufige Versagen der Multikulti-Politik

(c) Michaela Bruckberger
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Einwanderung ist ein Segen: Sie macht Gesellschaften offener, lebendiger, kosmopolitischer. Aber die Politik des Nebeneinanderlebens ist von Grund auf falsch. Daher hat Merkel zumindest in gewisser Weise recht,.

Multikulturalismus ist „absolut gescheitert“. Der unumwundene Kommentar der deutschen Kanzlerin Angela Merkel über das Fiasko der ethnischen Beziehungen in Deutschland hat in den Augen vieler eine willkommene Dosis Realismus in die Debatte gebracht. Ich bin ein Kritiker des Multikulturalismus und war das schon lange, bevor es Mode wurde, einer zu sein. Dennoch macht mich Merkels Kritik nicht froh. Denn sie ist nicht so sehr ein Angriff gegen den Multikulturalismus, sondern gegen Einwanderung. Und gegen die Einwanderer.

Merkels Bemerkungen stehen vor dem Hintergrund einer größeren Debatte rund um den Platz der türkischen Zuwanderer in der deutschen Gesellschaft. Das kontroversielle Buch „Deutschland schafft sich ab“ des früheren Bundesbankvorstandes Thilo Sarrazin – welches die Behauptung aufstellt, Deutschland sei wegen der „Islamisierung“ der Nation auf dem endgültigen Abstieg – wurde zum Bestseller. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, dessen CSU eine von drei Parteien in Merkels Regierungskoalition ist, hat sich kürzlich für einen Einwanderungsstopp für Muslime ausgesprochen. Familienministerin Kristina Schröder hat die antideutsche „Xenophobie und den Rassismus“ türkischer Gemeinden verurteilt. Angesichts der Landtagswahlen im kommenden Jahr und möglicher Herausforderer um die Führerschaft in ihrer Partei hat Merkel in den bitteren Chor eingestimmt.


Diese Politik gehört auf den Müll. In gewissem Sinn hat Merkel recht. Deutschlands Multikulti-Politik ist eine Katastrophe und gehört auf den Müll. Aber das Versagen des Multikulturalismus – und vor allem seine Einführung – haben wenig mit den Einwanderern zu tun. Immigrantengruppen haben diese Politik als schädlich und destruktiv bekämpft. Um zu verstehen warum, müssen wir uns die Geschichte der Nachkriegseinwanderung in Deutschland vor Augen führen. Wie viele westeuropäische Nationen sah sich Deutschland einer ungeheuren Arbeitskräfteknappheit ausgesetzt und rekrutierte aktiv Arbeiter, zunächst aus Italien, Spanien und Griechenland, danach aus der Türkei. Diese Arbeiter kamen nicht als Immigranten und noch weniger als potenzielle Staatsbürger, sondern eben als Gastarbeiter, von denen erwartet wurde, dass sie in ihr Ursprungsland zurückkehren, wenn ihre Dienste nicht länger von der deutschen Wirtschaft in Anspruch genommen würden.

Im Laufe der Zeit wandelte sich die Einrichtung der Gastarbeiter von einer vorübergehenden Notlösung in eine permanente Anwesenheit. Das kommt teilweise daher, dass Deutschland fortfuhr, sich auf deren Arbeitskraft zu verlassen, und teilweise, weil die Einwanderer, und noch mehr ihre Kinder, begannen, Deutschland als ihre Heimatanzusehen. Der deutsche Staat fuhr aber fort, sie als Außenseiter zu betrachten und ihnen die Staatsbürgerschaft zu verweigern. Heute leben beinahe vier Millionen Menschen türkischen Ursprungs in Deutschland. Kaum eine halbe Million hat es geschafft, Bürger zu werden. Und es sind nicht nur Einwanderer der ersten Generation, denen die Staatsbürgerschaft versagt wird, auch ihre in Deutschland geborenen Kinder sind davon ausgeschlossen.


Der Kulturarbeit ausgewichen. Statt eine offene Gesellschaft zu erschaffen, in der die Einwanderer als Gleiche willkommen geheißen werden, haben die deutschen Politiker von den Achtzigerjahren an versucht, das „türkische Problem“ durch eine Politik des Multikulturalismus in den Griff zu bekommen. Statt Einbürgerung und eines echten Platzes in der Gesellschaft, wurde den Einwanderern „erlaubt“, ihre eigene Kultur, Sprache und ihren Lebensstil zu behalten. Die Konsequenz war die Schaffung von Parallelgesellschaften. Diese Politik war dabei kein Ausdruck von Respekt vor der Verschiedenheit, als vielmehr ein Versuch, sich um die Frage zu drücken, wie man eine gemeinsame, inklusive Kultur schaffen könne.

Als Folge dieser Multikultur-Politik wurden türkische Gemeinden in gefährlichem Ausmaß selbstbezogen. Ohne irgendwelche Anreize, an der nationalen Gemeinschaft teilzunehmen, haben sich viele nicht darum gekümmert, Deutsch zu lernen. Einwanderer der ersten Generation waren weithin säkular, und wer religiös war, war es auf dezente Weise. Heute besucht fast ein Drittel der erwachsenen Türken in Deutschland regelmäßig die Moschee – ein weit höherer Anteil als bei türkischen Gemeinden sonst wo in Westeuropa, und höher als in den meisten Gegenden der Türkei selbst. Frauen der ersten Generation trugen fast nie ein Kopftuch. Viele ihrer Töchter tun das schon.

Die Türken waren aber nicht nur von der deutschen Mainstream-Gesellschaft isoliert, sondern auch von den Gemeinden entfremdet, aus denen sie ursprünglich kamen – und von den traditionellen Institutionen des Islam. Die wachsende Religiosität und Innengerichtetheit sowie die zunehmende Isolation der deutschen Türken der zweiten Generation von den sozialen Strukturen in Deutschland und der Türkei öffnete manche für radikalislamische Einflüsse. Die aktuellen Meldungen von deutschen Dschihadis in Afghanistan sind die unausweichliche Folge davon.

Während die deutsche Politik des Multikulturalismus die Einwanderer bestenfalls zu Gleichgültigkeit gegenüber der deutschen Mainstream-Gesellschaft – und im schlimmsten Fall zu offener Feindseligkeit – ermunterte, sorgte sie auch dafür, dass die Deutschen den Türken gegenüber zunehmend feindlich gestimmt wurden. Was es bedeutete, deutsch zu sein, wurde teilweise in Abgrenzung zu den Werten und Überzeugungen der ausgeschlossenen Migrantengemeinde definiert. Und wo sie nun schon einmal ausgeschlossen waren, war es auch einfacher geworden, die Einwanderer zu den Sündenböcken für Deutschlands soziale Probleme zu machen. Eine aktuelle Umfrage hat gezeigt, dass mehr als ein Drittel der Deutschen meint, dass das Land von Fremden überlaufen sei. Und mehr als die Hälfte versteht, dass man Araber „unangenehm“ findet.


Entfremdung der Minderheiten. Deutschland ist einen anderen Weg in die multikulturelle Gesellschaft gegangen als etwa Großbritannien. Dort kamen die Einwanderer nicht als Gastarbeiter, sondern als britische Bürger. Sie wurden von der Mainstream-Gesellschaft nicht ausgeschlossen, weil man ihnen die Einbürgerung verweigerte, sondern aus Rassismus. Die Antwort der britischen Behörden auf diesen Ausschluss war allerdings dieselbe wie jene der deutschen: die Ermunterung der Minderheitengruppen, ihre Identitäten auszudrücken, ihre eigenen Historien zu erkunden, ihre eigenen Werte zu formulieren und ihre eigenen Lebensstile zu verfolgen.

In Deutschland hat die formelle Versagung der Einbürgerung von Einwanderern zur Politik des Multikulturalismus geführt. In Großbritannien hat die Befürwortung einer Politik des Multikulturalismus dazu geführt, dass Personen aus Minderheiten de facto nicht als Bürger, sondern einfach als Mitglieder bestimmter ethnischer Gruppen behandelt wurden. Die Folgen waren in beiden Fällen – wie in buchstäblich jedem westeuropäischen Land – die Entstehung von fragmentierten Gesellschaften, die Entfremdung von Minderheiten und die Sündenbockrolle für Einwanderer.


Einwanderung feiern! Der Grund, warum wir uns in diesem Schlamassel befinden, liegt zum Teil darin, dass die Debatte über den Mulikulturalismus mit der Debatte über die Einwanderung verschmolzen worden ist. Auf der einen Seite behaupten viele Menschen – wie zum Beispiel Angela Merkel –, dass die Einwanderer dazu beigetragen haben, soziale Uneinigkeit zu schaffen. Auf der anderen Seite haben viele den Eindruck, sie könnten Minderheitenrechte nur über die Politik des Multikulturalismus verteidigen. Beide Seiten haben Unrecht.

Einwanderung war eine große Wohltat, die zur Bildung von weniger abgegrenzten und dafür dynamischeren, kosmopolitischeren Gesellschaften beigetragen hat. Nicht die Einwanderer haben fragmentierte Gesellschaften geschaffen, sondern die Multikultur-Politik, die dazu gedacht war, dieser Einwanderer Herr zu werden. Um einen Ausweg aus diesem aktuellen Morast zu finden, müssen wir die Diskussion über Multikulturalismus von jener über Einwanderung trennen. Es ist Zeit, den Multikulturalismus loszuwerden und die Einwanderung zu feiern.

Kenan Malik

ist britischer Wissenschaftler (Neurobiologie), Autor und Fernsehjournalist indischer Herkunft und marxistischer Vergangenheit. In seinen Büchern beschäftigt er sich vor allem mit philosophi-schen Fragen der Biologie, etwa „The Meaning of Race: Race, History and Culture in Western Society“ (1996). Zuletzt: „From Fatwa to Jihad: The Rushdie Affair and its Legacy“ ©Kenan Malik, vermittelt durch eurozine.com

Multikulti Merkel

In einer Rede vor der Jungen Union in Potsdam am 15. Oktober kam Angela Merkel darauf zu sprechen, dass Deutschland die Gastarbeiter selbst ins Land geholt habe: „Und jetzt leben sie bei uns. Wir haben uns 'ne Weile lang in die Tasche gelogen. Wir haben gesagt: Die werden schon nicht bleiben, irgendwann werden sie weg sein. Das ist nicht die Realität. Und natürlich war der Ansatz, zu sagen: Jetzt machen wir hier mal Multikulti und leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander – dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2010)

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