Zwischen Marx und Joker: Die wahre Bedeutung von WikiLeaks

Zwischen Marx Joker wahre
Zwischen Marx Joker wahre(c) EPA (Andy Rain)
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Beruht die Zivilisation auf Lebenslügen, die alle kennen und keiner nennen will? Ist WikiLeaks ein Angriff auf die von der Macht geduldete Machtkritik? Und macht uns die enthüllte Wahrheit frei? Eine linke Theorie über gewahrten Anschein und die Diskretion von Ehrenmännern.

In der von WikiLeaks veröffentlichten Diplomatenpost werden Putin und Medwedew mit Batman und Robin verglichen. Das ist eine brauchbare Analogie: Ist Julian Assange im wirklichen Leben wie der „Joker“ in Christopher Nolans „Dark Knight“? In diesem Film wird Bezirksstaatsanwalt Harvey Dent, ein obsessiver Selbstjustizler, selber korrupt und ein Mörder, von Batman getötet. Batman und seinem Freund, Polizeikommissar Gordon, wird klar, dass die Moral der Stadt unter dem Bekanntwerden der Morde Dents leiden würde. Daher verschwören sie sich, Dents Andenken zu bewahren, indem Batman die Verantwortung für dessen Morde übernimmt. Unterm Strich ist die Botschaft: Lügen ist notwendig, um die öffentliche Moral aufrechtzuerhalten. Nur eine Lüge kann uns erlösen. Kein Wunder, dass die einzige Figur der Wahrheit in dem Film der Joker ist, der Oberbösewicht. Er macht deutlich, dass seine Attacken auf Gotham City aufhören werden, wenn Batman seine Maske abnimmt und seine wahre Identität preisgibt.

Der Joker will die Wahrheit hinter der Maske enthüllen – in der Überzeugung, dass dies die gesellschaftliche Ordnung zerstören wird. Wie sollen wir ihn nennen – einen Terroristen? Der Film war außerordentlich populär. Die Frage ist, warum es gerade jetzt einen erneuten Bedarf an der Lüge gibt, um das Gesellschaftssystem zu erhalten?

Betrachten wir auch die neuerliche Popularität des Philosophen Leo Strauss: Der heute so relevante Aspekt seines politischen Denkens ist die elitäre Auffassung von Demokratie, die Idee der „notwendigen Lüge“. Eliten sollen herrschen im Wissen um die wirkliche Lage der Dinge (die materialistische Logik der Macht) und die Menschen mit Fabeln füttern, um sie in ihrer glückseligen Ignoranz zu bewahren.

Bisher wurde die WikiLeaks-Geschichte dargestellt als ein Kampf zwischen WikiLeaks und dem amerikanischen Empire: Ist die Veröffentlichung vertraulicher Staatsdokumente ein Akt der Informationsfreiheit, des Rechts des Bürgers, Bescheid zu wissen – oder ein terroristischer Akt, der stabile internationale Beziehungen gefährdet? Aber was, wenn das gar nicht die wirkliche Frage ist? Was, wenn sich die entscheidende ideologische und politische Schlacht innerhalb von WikiLeaks abspielt: zwischen dem radikalen Akt der Veröffentlichung geheimer Staatspapiere und der Art, wie dieser Akt in den herrschenden ideologisch-politischen Bereich eingeschrieben wurde – unter anderem von WikiLeaks selbst?

Zu dieser Einschreibung gehört vor allem die verschwörerische Art von WikiLeaks: eine „gute“ Gruppierung, die eine „böse“ in Form des US-Außenministeriums attackiert. Nach dieser Sichtweise sind der Feind jene US-Diplomaten, die die Wahrheit verbergen, die Öffentlichkeit manipulieren und ihre Verbündeten demütigen. „Macht“ haben die bösen Männer an der Spitze, und sie wird nicht als etwas gesehen, das den gesamten Gesellschaftsaufbau durchzieht und das bestimmt, wie wir arbeiten, was wir denken und konsumieren.

Dieses Verschwörertum wird durch seinen offensichtlichen Widerpart ergänzt – die liberale Inbesitznahme von WikiLeaks als ein weiteres Kapitel in der ruhmreichen Geschichte des Kampfes um den „freien Informationsfluss“. Diese Sichtweise reduziert WikiLeaks auf einen Radikalfall des investigativen Journalismus, nahe der Ideologie von Filmen wie „All the President's Men“ über Watergate: Was für ein großes Land muss das unsere sein, wenn ein paar gewöhnliche Kerle wie du und ich den Präsidenten zu Fall bringen können, den mächtigsten Mann der Welt!

Es ist die ultimative Macht-Zurschaustellung, wenn die herrschende Ideologie zulässt, was wie machtvolle Kritik aussieht. Es gibt heute ja keinerlei Mangel an Anti-Kapitalismus. Bücher, tiefgreifender investigativer Journalismus und TV-Dokumentationen stellen umweltverschmutzende Unternehmen bloß und korrupte Banker, die weiterhin fette Boni kassieren, und illegale Werkstätten, in denen Kinder Sklavenarbeit verrichten. Aber es gibt einen Haken: Was in diesen Kritiken nicht hinterfragt wird, ist die demokratisch-liberale Einrahmung des Kampfs gegen diese Exzesse. Das (explizite oder implizierte) Ziel ist es, den Kapitalismus zu demokratisieren, die demokratische Kontrolle auf die Wirtschaft auszudehnen durch medialen Druck, parlamentarische Untersuchungen, strengere Gesetze, ehrliche Polizeiuntersuchungen und so fort. Aber der institutionelle Aufbau des (bourgeoisen) demokratischen Staates wird nie in Frage gestellt.


WikiLeaks gehört da nicht dazu. Von Beginn an gab es da etwas in ihren Aktivitäten, das weit über die liberalen Konzepte des freien Informationsflusses hinausgeht. Dieses Etwas kann nicht auf der Ebene der Inhalte gefunden werden. An den WikiLeaks-Enthüllungen war nur überraschend, dass nichts Überraschendes in ihnen war. Haben wir aus ihnen nicht genau das gelernt, was zu lernen wir erwartet haben? Die wirkliche Verstörung liegt auf der Ebene des Anscheins: Wir können nicht länger so tun, als ob wir nicht wüssten, wovon jeder weiß, dass wir es wissen. Das ist das Paradoxon der Öffentlichkeit: Sogar wenn eine unerfreuliche Tatsache allen bekannt ist, ändert es alles, wenn sie jemand öffentlich ausspricht. Eine der ersten Maßnahmen der neuen bolschewistischen Regierung 1918 war die Veröffentlichung des gesamten Corpus zaristischer Geheimdiplomatie, alle geheimen Abkommen, Geheimklauseln usw. Auch dort war das Ziel das insgesamte Funktionieren des Staatsapparates der Macht.

Was von WikiLeaks bedroht wird, ist das formale Funktionieren der Macht. Die wahren Ziele waren hier nicht die schmutzigen Details und die dafür Verantwortlichen. In anderen Worten: nicht so sehr die Mächtigen als vielmehr die Macht selbst, als ihre Struktur. Wir müssen dabei bedenken, dass Macht ja nicht nur Institutionen und ihre Regeln umfasst, sondern auch die rechtmäßigen („normalen“) Wege der Kritik ihrer selbst (eine unabhängige Presse, NGOs usw.). Wie es der indische Wissenschaftler Saroj Giri ausgedrückt hat: WikilEaks „hat die Macht dadurch herausgefordert, dass sie die normalen Kanäle der Herausforderung der Macht herausgefordert und die Wahrheit enthüllt hat“. Das Ziel der WikiLeaks-Enthüllungen war nicht nur, die Mächtigen in Verlegenheit zu bringen, sondern uns in Bewegung zu setzen, um ein anderes Funktionieren der Macht hervorzubringen, das über die Grenzen der repräsentativen Demokratie hinausgeht.


Es wäre aber ein Fehler anzunehmen, dass die Enthüllung all dessen, was geheim war, uns befreien würde. Diese Vermutung ist falsch. Die Wahrheit befreit schon – aber nicht diese Wahrheit. Natürlich kann man der Fassade nicht trauen, den offiziellen Dokumenten, aber ebenso wenig finden wir Wahrheit im Geschwätz, das hinter der Fassade weilt. Der äußere Schein, das öffentliche Gesicht, ist niemals einfache Heuchelei. E.L. Doctorow hat einmal gesagt, dass der äußere Schein alles ist, was wir haben, und wir ihn deshalb mit großer Obsorge behandeln sollten. Man sagt uns oft, dass das Private am Verschwinden sei, dass die intimsten Geheimnisse der öffentlichen Erforschung geöffnet werden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Was tatsächlich verschwindet, ist der öffentliche Raum mit seiner dazu gehörenden Würde. Dabei gibt es im täglichen Leben Fälle genug, in denen es das Richtige ist, nicht alles zu sagen.

Ein hervorragendes Beispiel für Takt in der Politik ist das Geheimtreffen zwischen Álvaro Cunhal, dem Chef der kommunistischen Partei Portugals, und Ernesto Melo Antunes, einem demokratiefreundlichen Mitglied jener Armeegruppe, die dann für den Staatsstreich gegen Salazar 1974 verantwortlich war. Die Lage war außerordentlich gespannt: Auf der einen Seite war die kommunistische Partei bereit zum Start einer echten sozialistischen Revolution (es waren bereits Waffen an das Volk verteilt worden). Auf der anderen Seite waren Konservative und Liberale bereit, die Revolution um jeden Preis zu verhindern und dafür auch die Armee einzusetzen. Antunes und Cunhal machten einen Deal, ohne ihn festzulegen: Es gab kein Abkommen zwischen ihnen – nach außen hin gab es nur Uneinigkeit–, aber beide verließen das Treffen im Verständnis, dass die Kommunisten keine Revolution beginnen, aber das Entstehen eines „normalen“ demokratischen Staates zulassen würden, und dass das antisozialistische Militär die kommunistische Partei nicht verfolgen, sondern als ein Schlüsselelement des Demokratieprozesses anerkennen würde. Man kann sagen, dass dieses diskrete Treffen Portugal vor einem Bürgerkrieg verschont hat. Und die Teilnehmer behielten ihre Diskretion sogar im Rückblick bei. Als ein mit mir befreundeter Journalist Cunhal zum Treffen befragte, sagte dieser, er würde das Stattfinden nur bestätigen, wenn Antunes es nicht dementierte – sollte Antunes es in Abrede stellen, habe es nie stattgefunden. Antunes hörte seinerseits wortlos zu, als mein Freund ihm erzählte, was Cunhal gesagt hatte. So erfüllte er, indem er nichts dementierte, die Bedingung Cunhals und bestätigte somit implizit das Treffen. So agieren Ehrenmänner der Linken in der Politik.


Es gibt Momente, wenn es ums Ganze geht, in denen äußerer Schein, Höflichkeit, das Bewusstsein, dass man ein „Spiel spielt“, wichtiger sind als jemals sonst. Allerdings ist das nur eine – irreführende – Seite der Sache. Es gibt Augenblicke – Augenblicke der Krise des herrschenden Diskurses –, in denen man das Risiko eingehen sollte, die Zerstörung des Anscheins zu provozieren. Ein solcher Augenblick wurde vom jungen Marx 1843 beschrieben. In „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ diagnostizierte er den Niedergang des deutschen Ancien Régime in den 1830er- und 40er-Jahren als Wiederholung – als Farce – des tragischen Sturzes des französischen Ancien Régime. Das französische Regime war tragisch, „solange es selbst an seine Berechtigung glaubte und glauben musste“. Das deutsche Regime aber „bildet sich nur noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung. Wenn es an sein eignes Wesen glaubt, würde es [...] seine Rettung in der Heuchelei und dem Sophisma suchen? Das moderne ancien régime ist nur mehr der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind.“ In einer solchen Situation ist Schmach eine Waffe: „Man muss den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert.“

Das ist exakt unsere heutige Situation: Wir stehen dem schmachvollen Zynismus einer globalen Ordnung gegenüber, deren Akteure sich nur einbilden, dass sie an ihre Ideen der Demokratie, der Menschenrechte usw. glauben. Durch Aktionen wie die WikiLeaks-Enthüllungen wird die Schmach– unsere Schmach der Duldung solcher Macht über uns – schmachvoller gemacht, indem sie publiziert wird. Wenn die USA im Irak intervenieren, um säkulare Demokratie zu bringen, und das Ergebnis die Stärkung des religiösen Fundamentalismus und ein deutlich gestärkter Iran ist, dann ist das nicht ein tragischer Irrtum eines wohlmeinenden Akteurs, sondern der Fall eines zynischen Schwindlers, der in seinem eigenen Spiel geschlagen wird.

Slavoj
Žižek
ist slowenischer Philosoph, Sozialkritiker und Kulturtheoretiker. Er gilt als bedeutender Vertreter des Poststruktura-lismus, bezeichnet sich selbst aber gerne als „altmodischen“ oder „qualifizierten“ Marxisten oder schlicht als „radikalen Linken“.

Žižek hat sich durch mehr als drei Dutzend Bücher einen Namen gemacht, die zumeist auch auf Deutsch erschienen sind (zuletzt: „Ich höre dich mit meinen Augen“. Anmerkun-gen zu Oper und Literatur). Durch seine Lust zur Provokation gilt er auch als Enfantterrible der Philosophenszene. Žižek fungiert auch als Protagonist des Dokumentarfilms „The Pervert's Guide to Cinema“.

Dieser Artikel ist ungekürzt im englischen Original in der „London Review of Books“ vom 20. Jänner erschienen: lrb.co.uk/v33/n02/
zeitgeist films

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2011)

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