Zwischen Chaos und Hoffnung am Nil

(c) AP (Manu Brabo)
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Ägyptens Militärs haben sich nach dem Sturz Mubaraks bequem eingerichtet. Der Westen darf sich nicht im Namen einer falsch verstandenen Stabilität damit abfinden.

Ägypten steckt mitten in einem Kampf der Kulturen: zwischen den Militärs und der Demokratiebewegung, aber auch zwischen den liberalen Kräften und den Islamisten. Vor neun Monaten lösten die Generäle den langjährigen Diktator Hosni Mubarak ab und übernahmen die Macht. Sie haben diese Macht vom Volk geliehen, um für Stabilität zu sorgen, und versprachen, diese Macht binnen sechs Monaten an eine zivile Regierung abzugeben.

Sie haben aber weder für Stabilität in der Region gesorgt, wie es sich der Westen nach dem Sturz Mubaraks vom Militärrat vor allem erhofft hatte, noch haben sie einen Fahrplan für eine Übergabe der Macht erstellt. Und sie blockieren den Übergang zur Demokratie anscheinend ganz bewusst, weil sie Angst vor dieser Demokratie haben. Die 19 Männer, die in diesem Militärrat sitzen, wurden alle von Mubarak persönlich auserwählt und waren jahrelang ein wichtiges Instrument seiner Machtausübung. Sie waren mit ihm in viele Geld- und Waffengeschäfte verwickelt, durch die sich der eine oder andere illegal bereichert haben soll.

Die Entstehung einer echten Demokratie würde eine umfassende Aufarbeitung der Diktatur und die Öffnung aller geheimen Akten bedeuten. Das wollen die Generäle mit allen Mitteln verhindern. Kurz vor Beginn der Parlamentswahlen zeigt sich: Die mächtigen Männer in Uniform stehen für Stagnation, nicht für Stabilität. Auch die Menschenrechtslage hat sich unter dem Militärrat wesentlich verschlechtert, wie ein Bericht von Amnesty International zeigt. Mehr als 12.000 Menschen sitzen seit Februar in Militärgefängnissen und sind unfairen Schnellverfahren ausgeliefert, darunter viele politische Aktivisten und Blogger. Berichte über Folter, Elektroschocks, Zensur und Einschüchterungen nehmen zu.

Eigentlich sollten die Wahlen, die am Montag beginnen, ein neues Zeitalter am Nil einläuten: den Aufbruch zur Demokratie, zu einem freien Ägypten. Die jüngsten Szenen vom Tahrir-Platz aber wirken wie eine Zeitreise zurück in den Jänner. Es ist erschreckend, dass sich die Offiziere genauso verhalten wie Mubarak in den letzten Tagen seiner Herrschaft: Mit großer Härte gehen sie gegen die Demonstranten vor, die in den vergangenen Tagen erneut Wandel eingefordert haben. Aus dem Arabischen Frühling am Nil droht eine tragische Revolution zu werden.


Gute alte Zeit? Teile der Protestbewegung wollen deshalb künftig die Friedfertigkeit aufgeben, was das Land langfristig in Chaos und Gewalt stürzen könnte. Das kommt Mubaraks Anhängern entgegen, denn Chaos und Gewalt führen dazu, dass sich die einfachen Bürger gegen die Revolution wenden und nach den Zeiten der Diktatur zurücksehnen, als alles angeblich stabil und berechenbar war. Ein Zitat von J. F. Kennedy macht in Ägypten die Runde: „Diejenigen, die eine friedliche Revolution nicht zulassen, machen eine gewaltsame unvermeidbar.“

Dabei zeigt ein Blick nach Tunesien, dass es auch anders geht. Die Wahlen dort sind weitgehend friedlich verlaufen. Die Demokratie beginnt, feine Wurzeln zu schlagen. In Ägypten dagegen drohen Anarchie und politische Verwahrlosung. Denn es geht dem Militär nicht nur um Waffengeschäfte, sondern um Netzwerke, die viel Geld bringen, um eine Ökonomie, in der Wirtschaftsbosse nicht Krawatten, sondern Schulterklappen tragen. Da ist Demokratie schlecht fürs Geschäft.

Eine der Lehren aus dem Ende der Mubarak-Diktatur lautet: Niemand darf über dem Gesetz stehen. Auch das Militär nicht. Sonst löst eine Form der Bevormundung die andere ab. Es ist schon fast so weit. Die Offiziere haben sich an den Schalthebeln der Macht bequem eingerichtet. Doch die Protestbewegung am Nil durchschaut diese Spiele und steht auf. Diese Bewegung braucht aber Unterstützung von außen und Druck auf den Militärrat.

Der Westen mag dieser Tage anderes zu tun haben, als sich mit Nordafrika zu beschäftigen. Aber es wäre ein schwerer Fehler, abzuwarten und den Wandel zu verschlafen. Bleibt Nordafrika ein Unruheherd, könnte das für Europa wesentlich teurer werden als die griechische Schuldenkrise. Schon jetzt lebt Ägypten fast ausschließlich von Währungsreserven, die in wenigen Monaten verbraucht sein werden. Sollte der Staat mit seinen 85 Millionen Einwohnern scheitern, muss Europa viel Geld in die Hand nehmen, um eine Katastrophe abzuwenden.


Wohlfeile Appelle. Doch vom Engagement westlicher Staaten ist kaum etwas zu bemerken. Großbritannien und Frankreich kümmern sich lieber um neue Aufträge und Ölgeschäfte in Libyen, Deutschlands Außenminister Westerwelle ergeht sich in wohlfeilen Appellen, seit er sich auf dem Tahrir-Platz fotografieren ließ. US-Präsident Obama hat seinen Frieden mit dem Militärrat geschlossen, weil er glaubt, dass dieser Stabilität in der Region aufrechterhält. Der gleiche Militärrat, der für die schweren Ausschreitungen zwischen Muslimen und Kopten verantwortlich gemacht wird, sowie für den Sturm auf Israels Botschaft.

Aber der Westen kann nicht neutral bleiben. Die zivile Gesellschaft hat keine Panzer oder Waffen. Sie braucht Unterstützung. Und dafür reicht es nicht, ab und zu einen Blogger aus Ägypten einfliegen zu lassen, ihn aufs Podium zu setzen und solidarische Worte zu sprechen. Obama, Merkel und Sarkozy müssen endlich deutlich machen, dass der Militärrat für sie in der Zukunft kein Partner sein wird.


Islam und Klischees. Die Zurückhaltung des Westens speist sich auch aus der Sorge vor den Islamisten. Es gibt wohl kaum einen Begriff im Zusammenhang mit der arabischen Welt, der mit mehr Klischees behaftet ist. Ja, die Fundamentalisten der Moslembruderschaft sind auf dem Weg, bei den Wahlen eine Mehrheit zu erringen. Wahr ist aber auch: Die Angst davor ist im Westen maßlos übertrieben. Es ist erstaunlich, dass in den Mutterländern der Demokratie das Vertrauen in demokratische Prozesse so gering ist. Verlaufen diese fair, ist auch von den Islamisten kein großer Schaden zu erwarten. Sie können sich eben nicht – wie im Iran – in einen Gottesstaat zurückziehen. Dafür sind die Probleme zu groß und die ökonomischen Grundlagen zu schmal. Auch deshalb versuchen die Islamisten, eine neue Form des politischen Islam zu repräsentieren: einen pragmatischen Islamismus, der weder Bankzinsen noch Alkohol verbietet. Sie haben keine andere Chance, als sich politisch zu bewähren, denn die Erwartungen der jungen Menschen sind enorm.

Wer Demokratie in der Region will, muss bereit sein, die Konflikte in der Endphase einer Diktatur auszuhalten. Auch nach einer freien Wahl wird Ägypten noch keine gefestigte Demokratie haben. Wir sollten uns da keine Illusionen machen. Auch Frankreich war wenige Monate nach dem Sturm auf die Bastille weit von Demokratie entfernt. Die Ziele einer Revolution setzen sich immer erst in der zweiten Generation durch. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass der Islam nicht die Basis für diesen Prozess werden kann, denn der Islam sieht Gott als Gesetzgeber, und dessen Gesetze sind nicht verhandelbar. Hier kommt es zu einer Gleichsetzung von Moral und Gesetz. Das ist ein trojanisches Pferd, das den gesamten Prozess von innen zerstören kann.

Demokratie bedeutet nicht nur die Überwindung der Diktatur, sondern die Überwindung jeder Bevormundung. Demokratie bedeutet nicht nur die Herrschaft einer gewählten Mehrheit über eine Minderheit, sondern die Befähigung der Minderheiten und der Individuen, sich notfalls gegen die Willkür einer Mehrheit wehren zu können. Und da hilft der Islam nicht, weil für ihn das Individuum nicht im Mittelpunkt steht. Diese Revolution fand trotz, und nicht wegen, des Islam statt. Sollte in Ägypten eine Demokratie entstehen, wird dies auch nicht wegen, sondern trotz des Islam passieren.

Es hat keinen Sinn, im Namen des Konsenses auf den Trümmern alter Häuser neue zu bauen. Wir müssen die Spannung des inneren Kampfes der Kulturen aushalten. Die Trümmer müssen beseitigt und die Ruinen niedergerissen werden. Das braucht Zeit. Aber diese Zeit müssen wir uns nehmen. Wir brauchen weder kalte Geduld noch brennende Eile. Brennende Geduld wäre das Richtige!

Hamed Abdel-Samad ist deutsch-ägyptischer Politikwissenschaftler und Publizist. Sein Buch „Krieg oder Frieden. Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens“ ist gerade im Droemer Verlag erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2011)

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