»Das Böse ist das Drama der Freiheit«

Boese Drama Freiheit
Boese Drama Freiheit(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Kann man sich dem Massenmord von Oslo auch philosophisch nähern? Philosoph Konrad Paul Liessmann erklärt im Gespräch mit der »Presse am Sonntag«, warum das Böse auch etwas mit Freiheit zu tun hat, weshalb die Frage nach dem absolut Bösen strittig ist – und warum Gedankenfreiheit für jede halbwegs humane Gesellschaft unerlässlich ist.

Wie böse ist Anders Behring Breivik?

Konrad Paul Liessmann: Das kommt darauf an, welchen der psychiatrischen Gutachten man traut. Wenn er unzurechnungsfähig war, ist er nicht böse, sondern krank. Wenn er zurechnungsfähig ist, ist er offensichtlich sehr böse.

Wie relevant ist die Motivation?

In unserer Denktradition ist die Motivation entscheidend. Schon Immanuel Kant hat darauf verwiesen, dass wir an einer Tat selbst ihre moralische Dimension nicht immer erkennen können, das letztlich die Maxime, nach der jemand handelt, für die moralische Bewertung entscheidend ist. Es ist nicht so lange her, dass Nato-Bomber Libyen bombardiert haben und dabei auch Dutzende Kinder von Bomben zerfetzt worden sind. Da hieß es, Kollateralschaden, tut uns leid, aber es geht um eine gute Sache. Die Motivation und die ihr zugrunde liegende Maxime erscheinen als eine gute Sache – ein Volk soll von einem Tyrannen befreit werden. Der nackte Sachverhalt ist ähnlich: Kinder und Jugendliche, die gespielt haben, sind tot. Bei Breiviks Attentat war aber die Motivation, diese jungen Menschen zielgerichtet zu töten, die Maxime, so viel Leid als möglich zu verbreiten. Das erst macht die Tat böse. Dazu kommt: Die krausen Verschwörungstheorien, denen Breivik anhängt, sind für uns unerträglich, auch für seine weltanschaulichen Motive können wir kein Verständnis entwickeln.

Bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit ist kein eindeutiger Schluss zu erwarten. Dieses Verbrechen einordnen zu können, scheint aber außerordentlich wichtig zu sein, um damit umgehen zu können.

Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Es ist unsere Art, damit umzugehen. In einer Kultur, die ihr Rechtsempfinden auf Rache aufbaute, wären die Verwandten der Getöteten losgezogen und hätten den Täter vielleicht am nächsten Baum aufgehängt, ohne lange nach Zurechnungsfähigkeit zu fragen. Das ist nicht unsere Art. Wir haben eine zivilisierte Rechtsprechung entwickelt, die darauf aufbaut, dass Menschen für ihre Taten Verantwortung übernehmen, sofern sie zurechnungsfähig sind. Gleichzeitig dehnen wir die Bereiche der Schuldunfähigkeit immer mehr aus. Die Pathologisierung ist auch eine elegante Möglichkeit, nicht mehr nach der Verantwortung fragen zu müssen. Mit dem Problem moralischer Schuld und Sühne hat man dann nichts mehr zu tun – es ist nun eine Frage der Psychiatrie.

Wie ist es möglich, dass Menschen überhaupt kein Mitleid empfinden?

Diese Frage drängt sich auf, aber nur, wenn man davon ausgeht, dass die Mitleidsfähigkeit zur menschlichen Grundausstattung gehört. Diese generelle Fähigkeit zum Mitleiden, die ja durch die Entdeckung der Spiegelneuronen bestätigt erscheint, hat ein Philosoph wie Arthur Schopenhauer ja auch zum Fundament der Moral erklärt. Allerdings: Menschen können offensichtlich auch darauf trainiert werden, kein Mitleid zu empfinden. Folterer agieren mitleidlos, können oder wollen sich nicht in die Situation des Opfers hineinversetzen. Wir sehen aber auch Formen von Mitleidlosigkeit in der Alltagskriminalität, anlässlich derer man sich fragt, wie kann das passieren? Woher diese Grausamkeit, diese Verrohung?

Selbst kleine Kinder können grausam sein. Muss Mitleid erlernt werden?

Natürlich können Kinder grausam sein. Zum Teil aber nicht aus Lust an der Grausamkeit. Sie sind neugierig, sie probieren aus, ahmen auch nach, was sie gesehen haben. Sie sehen Zeichentrickfilme, in denen Tiere an die Wand geknallt werden, also knallen sie auch Tiere an die Wand. Man darf nicht vergessen, dass das nachahmende Lernen in der frühen Entwicklungsphase eine entscheidende Rolle spielt. Die Fähigkeit zu einem Mitleid, das eigene Handlungen hemmt, muss offenbar auch entwickelt und ausgebildet werden, sie kann durch Vorbildwirkung, durch Erfahrungen gestärkt werden, kann aber auch verkümmern.

Das biedere Äußere des Täters scheint den Schrecken zu vergrößern. Ist das Böse noch schlimmer, wenn es schön aussieht?

Nun, bieder ist doch wohl nicht gleich schön. Aber es gibt eine lange Debatte über die Ästhetik des Bösen und über die Frage, wie sehr das Böse und das Hässliche zusammenfallen. Das Hässliche hat den Vorteil, dass damit das Böse visuell identifizierbar ist: „Man sieht es ihm an.“ In der Wirklichkeit allerdings erscheint das Böse oft in der Gestalt des Banalen, das wissen wir schon lange, zumal die größten Massaker des 20. Jahrhunderts von biederen Beamten durchgeführt worden sind.

Aber ist nicht das Böse produktiver als das Gute, auch weil es so faszinierend ist?

Das kommt darauf an. Nehmen wir Søren Kierkegaard: Das Böse und die Möglichkeit zum Bösen sind Indikator dafür, dass wir freie Wesen sind. Ohne diese Option, die wir ja nicht ergreifen müssen, ist die Freiheit nichtig. Rüdiger Safranski hat einmal gesagt, das Böse ist das Drama der Freiheit. Wenn ich wirklich Freiheit unterstelle, bedeutet das immer auch, dass diese Freiheit auch dafür benutzt werden kann, etwas zu tun, was anderen Menschen nicht gefällt, sonst wäre es ja keine Freiheit. Ob es das absolut Böse gibt, also etwas, was unter allen Umständen als böse gewertet werden muss, ist höchst strittig. Denn sehr oft erweist sich das, was uns heute als böse erscheint, morgen als weniger böse und umgekehrt. Das hat moralische Relativisten wie Friedrich Nietzsche zur These gebracht, dass das Böse immer nur das Vorurteil derjenigen ist, die sich gegenwärtig für gut halten. Für Nietzsche waren das Böse, das Aufbegehren gegen die Moral, die Umwertung der Werte dann auch eine Produktivkraft. Für Kant hingegen war das Böse der bewusste Verstoß gegen jede Konzeption von vernünftiger Sittlichkeit, das Unvernünftige schlechthin, im Sinne der praktischen Vernunft.

Welche Rolle spielt das geistige Umfeld für die Entstehung von Straftaten?

Das ist eine alte Diskussion, die man in jede politische Richtung ausdehnen kann. Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hat man Theodor Adorno für die Terrorattentate der Roten Armee Fraktion verantwortlich gemacht. Natürlich haben die womöglich Adorno gelesen, natürlich gibt es ein geistiges Umfeld, natürlich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Es ist ein Unterschied, ob ich eine Kritische Theorie der Gesellschaft lese, die implizit nahelegt, gegen den Kapitalismus zu kämpfen, oder ob ich Texte lese, in denen dezidierte Anleitungen für Terroranschläge gegeben werden. Ich würde sehr davor warnen, bestimmte Formen des Denkens zu verbieten, nur aus Angst heraus, es könnte jemand falsch verstehen. In der klassischen Philosophie, bei Spinoza zum Beispiel, gibt es die Trennung zwischen der Welt der Gedanken und der Welt des Handelns. Ich würde im Prinzip an dieser Trennung festhalten. Eine Gedankenpolizei gehört für mich zu den schlimmsten Vorstellungen.

Trifft das auch auf die Grass-Debatte zu?

Diese moralisierenden Anmaßungen des Günter Grass sind die eine Sache. Als moralische Instanz war er mir schon suspekt, bevor er die Geheimnisse seiner SS-Vergangenheit preisgegeben hat. Andererseits zeugen die Reaktionen auf das Gedicht von einer medialen Hysterisierung, die über jenes Moralisieren nicht hinauskommt, das man an Grass kritisiert. Warum genügt es nicht, das Gedicht in seinem ästhetischen Anspruch zu kritisieren und in seinen faktischen Aussagen zu widerlegen? Muss man darauf mit Verbannungen reagieren? Wir haben überhaupt kein Sensorium mehr, wie wir mit Gedanken und Gedankenfreiheit umzugehen haben. Wir reden ja auch lieber von Meinungsfreiheit als von Gedankenfreiheit, und Meinungsfreiheit ist für uns offensichtlich nur die Freiheit derjenigen Meinung, die wir ohnehin auch teilen.

Darf man also alles sagen?

Ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, in der man alles sagen kann. Es mag Situationen geben, in denen man glaubt, das einschränken zu müssen. Ich halte aber die mit Schiller'schem Pathos formulierte Gedankenfreiheit für halbwegs humane Gesellschaften für unerlässlich. Wobei man sagen muss, es geht um Gedanken: Nicht jede rausgerotzte Meinung, nicht jedes Vorurteil, nicht jeder Tabubruch ist ein Gedanke. Gedanken sind Ausdruck des Anspruchs auf Vernünftigkeit, das heißt, man muss auch bereit sein, das bessere Argument zu akzeptieren. Nur auf seiner Meinung zu beharren oder jeden Unsinn mit dem Hinweis auf das Recht auf seine Meinung zu immunisieren – das war nie das Ideal der Gedankenfreiheit! Aber wir sind alle nur Menschen. Und natürlich möchte am Ende gern jeder recht haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2012)

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