Zwischen Opfermythos und schmerzhafter Selbsterkenntnis

Leben mit der Krise. Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Orthodoxe Kirche auf Kreta fordert die Menschen zu „Reue und Umkehr“ auf.

Wir sind alle Griechen“, lautete das Motto eines Solidaritätsfestes für Griechenland, das auch heuer wieder am orthodoxen Pfingstfest vor der Dreifaltigkeitskathedrale am Wiener Fleischmarkt stattfand. Viele Leute nahmen daran teil, Christen aller Konfessionen. Auch der eine oder andere Politiker ließ sich sehen, vorbeikommende Touristen kauften sich etwas zum Essen. Die Einkünfte kommen Hilfswerken der orthodoxen Kirche in Griechenland zugute.
„Europa muss, basierend auf seiner christlichen Tradition, das Gefühl der Solidarität und des Miteinanders kräftigen“, sagte der Veranstalter, Metropolit Arsenios von Austria, zum Sinn des Festes. Aber sind wir wirklich alle Griechen? Möchten wir es sein? Der Satz ist suggestiv, und selbst dem Metropoliten ist nicht ganz wohl dabei. 2014 soll das Fest deshalb „Wir sind alle Menschen“ heißen. Es erscheint ihm doch etwas anmaßend, die übrige Welt für Griechenland in Haftung und Anspruch zu nehmen und die Griechen als die Einzigen darzustellen, die der Solidarität bedürftig sind.

Der Gipfel der Ungerechtigkeit

Dass wir alle Griechen sind, soll wohl bedeuten: Wir sind alle Opfer – Opfer desselben Systems. Und die Griechen können eigentlich nichts für ihr Schicksal. Und überhaupt: Was kann der einzelne Grieche dafür, der jetzt zum Handkuss kommt?
Beim Fest am Fleischmarkt war das die vorherrschende Meinung. Griechenland wurden die Kredite von den Banken geradezu aufgedrängt, wie hätten sie da nein sagen sollen? Der Gipfel der Ungerechtigkeit sei es, auch noch die Rückzahlung der Kredite zu verlangen, wo das Geld doch nur dazu diene, die Banken zu retten. Die simple Tatsache, dass man einen Kredit zurückzahlen muss, gehört offenbar nicht zum ökonomischen Allgemeinwissen.
Arsenios war am Vortag des Festes aus seiner Heimat Kreta zurückgekommen. Er hatte eine Gruppe österreichischer Journalisten dorthin begleitet, die er mit Bürgermeistern, Regionalpolitikern und Wirtschaftstreibenden der Insel zusammenbrachte. Vor allem diente die Reise aber den Begegnungen mit Metropoliten der orthodoxen Kirche und Besuchen in Klöstern und sozialen Einrichtungen der Kirche.
Kreta ist wahrscheinlich nicht der richtige Ort, um die Auswirkungen der griechischen Krise zu beobachten. In den Hochburgen des Massentourismus an der Nordküste der Insel geht das Geschäft bestens. Entsprechend zuversichtlich sind Kommunalpolitiker und Tourismusmanager.

Russen, Ukrainer und Polen haben ausbleibende Deutsche, Holländer und andere Westeuropäer ersetzt. Sie sind beliebte Gäste, weil sie nicht jeden Euro umdrehen und nicht sehr anspruchsvoll sind. Auch sind sie eifrige Käufer in den vielen Pelzgeschäften, die eigens für sie entstanden sind und die als fremdartige schwarze Glasmonumente aus der chaotisch verbauten Gegend ragen.
Wenn man wissen will,  wohin das Geld geflossen ist, das Griechenland zur Rückzahlung seiner Schulden fehlt, kann man es an der Nordküste Kretas direkt besichtigen. Das Geld haben nicht nur „die Reichen, die keine Steuern zahlen“ eingestreift. Es ist auch in einem beispiellosen Bauboom ausgegeben worden.
Ketten von Villen, die meisten ziemlich aufwendig gebaut und von architektonischer Qualität, ziehen sich hügelauf hügelab. Jeder hat gebaut, der ein Grundstück besessen hat oder ergattern konnte, durch keine Bauordnung behindert. Nichts wurde anscheinend in produzierende Betriebe investiert. Am Rande der Hauptstadt Heraklion, die immerhin 160.000  Einwohner hat, sieht man so gut wie keinen größeren Gewerbebetrieb, geschweige denn eine Industrieanlage.

Opfer und auch Täter

Die Griechen sind in einem Zwiespalt. Einerseits gefallen sie sich in der Rolle von Opfern ausländischer Kräfte. Mit Vorliebe wird die Troika der Geldgeber aus EU, IWF und Weltbank genannt, die ihnen die harten Auflagen und Sparpakete aufgezwungen habe.
Andererseits wissen sie, dass die Ursachen der Krise bei ihnen selbst liegen. Der Satz, Griechenland sei ein „Versuchskaninchen für Europa“, kommt jedem schnell über die Lippen. Was genau damit gemeint ist, können sie aber nicht sagen. Wobei sie mit dem Vorwurf, an ihnen solle ein Exempel statuiert werden, wahrscheinlich gar nicht einmal unrecht haben.

Bei einem Gespräch mit Lokalpolitikern und Hoteliers in Chersonissos herrscht eine andere, selbstkritische Einschätzung der Realität vor. Alexander Angelopoulos, Eigentümer mehrerer Hotels und Vorsitzender des örtlichen Hotelierverbandes, spricht es offen aus: „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.“ Aber er sieht eine Wende, die bereits in dem Augenblick begonnen habe, als die Krise allen zu Bewusstsein gekommen sei. Heute arbeiteten Griechen beispielsweise im Schnitt mehr Stunden als  die übrigen Europäer.
Diese Sicht der Dinge wird auch von den Bischöfen der orthodoxen Kirche geteilt, die sie allerdings um eine Ursachen- und Gewissenserforschung ergänzen. Metropolit Amphilochos, Bischof einer kleinen Diözese in Westkreta und Präsident der Orthodoxen Akademie von Kreta, die von der in Graz geborenen Emmanuela Larentzakis geleitet wird, formuliert es noch schärfer als Angelopoulos:

Der Weg des schnellen Gewinns

Die „Neugriechen“ hätten den „Weg des schnellen Gewinns  gesucht  – ohne viele Opfer, ohne viel zu arbeiten, ohne Leistung. Wir zahlen jetzt den Preis für diesen leichten Weg.“ Es sei eine irrige Annahme gewesen, „dass wir mehr ausgeben können, als wir verdienen“. Aber auch Amphilochos sieht eine Schuld beim „christlichen Europa, das gegenüber einem christlichen Land nicht immer gerecht gehandelt hat“. Er frage sich, „warum uns die europäischen Staaten immer Geld gegeben haben und uns nicht früher gesagt haben, dass es falsch war, was hier geschieht“.
Wie auch die anderen Bischöfe sieht Amphilochos die Ursachen der griechischen Verhältnisse in einer „krisi pnevmatiki“ – einer geistigen Krise: „Es gibt eine Verarmung der Menschen in Kultur und Ethik.“ Die Wirtschaftsprobleme seien nicht Ursache, sondern Folge dieser tieferen Krise des Geistes.
Der Weg, den die Kirche weist, ist schmerzhaft: „Wir versuchen, den Menschen klarzumachen, dass sie den Ausweg bei sich selbst suchen müssen durch Reue und Umkehr und die Änderung ihres Lebens.“ Wie immer in Not- und Krisenzeiten fühlt sich die griechische Kirche auch jetzt auf besondere Weise für das Schicksal der Nation verantwortlich.

Punktuelle Hilfsaktivitäten

Ihre Möglichkeiten, Hilfe zu leisten, sind aber nicht sehr groß. Institutionen wie etwa die Caritas hat sie nicht, die Aktivitäten bleiben punktuell – manche Pfarren betreiben Suppenküchen und Jugendzentren, manche Klöster Waisenhäuser, in die auch Kinder Aufnahme finden, deren Eltern zum Arbeiten ins Ausland gehen müssen –, aber darin trifft man sich mit einem ebenfalls schwachen und wenig organisierten Staat. „Wo wir können, ersetzen wir den Staat.“


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2013)

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