Warum Ungleichheit kein Schreckgespenst sein muss

Die Umwertung der Wirtschaftswerte. Gleichheit sollte es immer nur als Chancengleichheit, nicht aber als Ergebnisgleichheit geben.

Dass die „Reichen reicher werden und die Armen ärmer“ gehört zu den axiomatisch geltenden Sätzen des wirtschaftspolitischen Diskurses. Man kann ihn von katholischen und protestantischen Kanzeln ebenso hören wie bei gepflegten Abendessen in den Häusern des Wiener Bürgertums. Die „ritualisierte Empörung“ über die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit „gehört heute zum Repertoire der gebildeten Mittelschicht“, stellt der in Stanford lehrende deutsche Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht sarkastisch fest.

Arm darf sich auch der europäische Wohlstandsbürger vorkommen. Denn er glaubt, bei der allgemeinen Umverteilung, die er verlangt, prinzipiell zu kurz zu kommen. Das gilt, wie gesagt, nur in Europa. In den Vereinigten Staaten, wo der Staat nicht als ständiger Heiler aller sozialen Übel zur Verfügung steht, spornt der wirtschaftliche Erfolg eines anderen eher dazu an, es ihm gleichzutun. Das ist ein Teil der amerikanischen Verheißung.

Es fällt an der allgegenwärtigen Klage und moralischen Entrüstung allerdings auf, dass es sie erst seit der Finanzkrise von 2008/2009 gibt. Solange jeder damit rechnen durfte, dass es ihm im nächsten Jahr besser gehen würde als heuer – und das galt im Wesentlichen für alle Jahre seit der deutschen Währungsreform –, störte es niemanden, wenn andere vielleicht viel mehr hatten als er selbst. Die Ungleichheit wurde erst ein Thema, als es keine Zuwächse mehr zu verteilen gab. Da erst begann man auf den anderen zu schielen.

Die Tagungen des Weltwirtschaftsforums in Davos beginnen neuerdings mit der Verkündung der jeweils aktuellen Studie des Londoner Oxfam-Instituts, das auch in diesem Jahr wieder einmal den Anstieg der Ungleichheit in Einkommen und Vermögen verkündet hat, um im Sinn der Veranstalter den Teilnehmern des Forums ein schlechtes Gewissen einzujagen.

Diesmal wurde die Schreckensmeldung ausgegeben, wonach nur 62 Menschen auf der Welt zusammen 1,61 Billionen Euro und damit so viel wie die – ärmere – Hälfte der Menschheit besitzen würden. Zu Alarm besteht aber kein Grund, denn die andere Hälfte hat ein Vielfaches davon und zwar mit steigender Tendenz.

Die Feststellung, dass etwa 20 Prozent einer Bevölkerung 80 Prozent der Einkommen beziehen und dieselbe Relation für die Verteilung der Vermögen herrscht, wirkt auf den ersten Blick obszön. Der italienische Ökonom Vilfrido Pareto hat aber festgestellt, dass dieses 80zu20-Verhältnis eine mathematische Regel ist, die man auf verschiedene soziale Bereiche anwenden kann: 20 Prozent besitzen 80 Prozent des Weltvermögens, es erbringen aber auch nur 20 Prozent der österreichischen Steuerzahler über 70 Prozent des Einkommensteueraufkommens. Bevölkerungsverteilungen innerhalb eines Landes funktionieren ebenfalls so.

Der falsche Predigersatz

Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass die Ungleichverteilung der Markteinkommen in den Industrieländern zunimmt. Der neue Chef des Münchner Ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts, Clemens Fuest, relativiert diesen vermeintlich negativen Befund damit, dass die real verfügbaren Einkommen durch diverse Transferleistungen und Umverteilungsmaßnahmen viel höher seien. Das gilt für Österreich in noch höherem Maß als für Deutschland. Wir sagen deshalb vermeintlich, weil Ungleichheit keineswegs automatisch Ungerechtigkeit bedeutet.

Auch in Davos wird regelmäßig gefordert, Einkommen und Vermögen von den „Reichen“ zu den „Armen“ zu verschieben. Aber schon der große österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter hat angemerkt, es sei einer der Irrtümer des Sozialismus, dass der eine nur reicher werde, wenn man den anderen ärmer mache. In Wirklichkeit ist der Aufstieg der einen mit dem Aufstieg der anderen verbunden, das macht es auch verschmerzbar, wenn dabei die Unterschiede größer werden.

Im Übrigen ist der Predigersatz faktisch falsch, wenn man die Sache im Weltmaßstab betrachtet. Die weltweite Armut hat in den letzten Jahrzehnten drastisch abgenommen. Das belegt u. a. der sogenannte Milleniumsbericht der UNO über die Abnahme der Armut im globalen Maßstab, dessen Ziele bereits zehn Jahre früher erreicht wurden als prognostiziert.

Negativbeispiel Venezuela

Die UNO steht bekanntlich nicht im Ruf, besonders „neoliberal“ zu sein, wie das diffuse Schimpfwort gegen die Marktwirtschaft lautet. Im Bericht kann man lesen, dass seit 1990 die Zahl extrem armer Menschen weltweit um 700 Millionen gesunken ist. Eine Milliarde Menschen konnte sich aus dem Elend in ein Mittelstandsdasein verbessern. Diese Erfolge wurden aber eben nicht durch Umverteilung, wo es nichts zum Umverteilen gibt, sondern durch Handelsliberalisierung und eine unternehmerische, nicht staatlich gelenkte Wirtschaft erzielt, vor allem in den Tigerstaaten Asiens. Solche Erfolgsgeschichten gibt es vereinzelt auch in Lateinamerika. Ein extremes Gegenbeispiel ist freilich Venezuela. Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat das potenziell reiche Land, das auf den größten Ölreserven der Welt sitzt, total heruntergewirtschaftet.

Unter dem Titel „Verteilungskampf“ hat der deutsche Ökonom Marcel Fratzscher, auf den die SPD sich gern beruft, ein Buch veröffentlicht, in dem er erklären will, „warum Deutschland immer ungleicher wird“. Er liefert reichlich Daten über ungleiche Einkommensverteilung, stagnierende Reallöhne und steigende Armut.

Wer erwartet hatte, Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, werde für mehr Umverteilung und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft plädieren, rieb sich die Augen: „Die Lösung liegt in weniger Staat und mehr Wettbewerb“, sagte er bei der Vorstellung des Buchs. Dass die oberen zehn Prozent der Gesellschaft so viel haben, „sollte uns weniger jucken“, meinte er, als das Schicksal der unteren 40 Prozent. Ihnen sollte man dabei helfen, „durch eigene Anstrengung“ ein besseres Auskommen zu finden.

Diskreditierter Wettbewerb

Damit kommt er dem Vater des deutschen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, erstaunlich nahe. Dieser schrieb in seinem die soziale Marktwirtschaft begründenden Buch „Wohlstand für alle“: „Die soziale Marktwirtschaft kann nur gedeihen, wenn die Bereitschaft, für das eigene Schicksal Verantwortung zu tragen und aus dem Streben nach Leistungssteigerungen an einem ehrlichen freien Wettbewerb teilzunehmen, nicht durch vermeintlich soziale Maßnahmen zum Absterben verurteilt wird.“

Wettbewerb hat aber unweigerlich zur Folge, dass im Ergebnis Ungleichheit entsteht. Deshalb ist der Begriff auch schon diskreditiert, wie Gumbrecht bemerkt. Er schlägt vor, stattdessen Markt zu verwenden ohne anscheinend zu wissen, dass in Europa durch die von ihm beklagte „Umwertung der Wirtschaftswerte“ auch das schon als anrüchig gilt. Gleichheit kann es nur als Chancengleichheit und nicht als Ergebnisgleichheit geben. Die erzwungene Herstellung materieller Gleichheit ist überdies nur auf immer niedrigerem Niveau zu haben – und auf Kosten der Freiheit und Gerechtigkeit.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2016)

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