Wie der Osten die EU verändern könnte

Gewichtsverschiebung. Nach dem Brexit werden der Süden und der Osten innerhalb der Europäischen Union an Bedeutung gewinnen.

Auch wenn die Tragikomödie des Brexit wirtschaftlich irgendwie glimpflich ausgehen sollte, wird das Ausscheiden Großbritanniens ein großer Verlust sein. Europa braucht die Briten: Ihren Eigensinn und zugleich ihre Gesetzestreue (kein Land hält die EU-Vorschriften so penibel ein wie Großbritannien); ihre weltweiten Verbindungen, die Gesinnung für Marktwirtschaft und die Offenheit für Freihandel. Nicht zuletzt ist und bleibt das Vereinigte Königreich eine transatlantische Brücke und als Atommacht und Nato-Mitglied unersetzlich für eine gemeinsame europäische Außenpolitik.

Der Brexit wird die Gewichte in der EU nach Süden und nach Osten verlagern. Einen Vorgeschmack davon bekam man, als Italien von Angela Merkels Gnaden ins EU-„Direktorium“ zu Deutschland und Frankreich aufgerückt ist. Ministerpräsident Matteo Renzi hat dafür gleich erreicht, dasssich sein Land nicht an die Verschuldungskriterien des Maastricht-Vertrags halten muss, die für Frankreich mit Zustimmung aus Brüssel ohnehin schon außer Kraft gesetzt wurden. Nun wird Italien unter Bruch der EU-Regeln auch noch seine Banken mit Steuergeld sanieren dürfen.

Die Gewichtsverschiebung nach Süden bedeutet die Sanktionierung einer systematischen Schuldenpolitik und eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist als solches schon eine gefährliche Drohung, denn die gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik wäre eine Planwirtschaft nach französischem Vorbild.

Der erste Reflex in Brüssel auf die Entscheidung für den Brexit war denn auch: Jetzt, wo wir die lästigen Briten endlich los sind, steht einer Vertiefung der EU nichts mehr im Wege.

Jede Intensivierung und Verdichtung der EU würde aber nur den zentrifugalen Kräften weiteren Auftrieb geben, die nie einem zentralstaatlichen Europa beitreten wollten. Nach Großbritannien würden sich womöglich Tschechien, Dänemark und die Niederlande von einer solchen EU verabschieden. Denn, so viel ist klar: Die Phantom-Vereinigten-Staaten von Europa würden nicht nach föderalistischen Prinzipien organisiert werden, sondern nach einem zentralstaatlichen Modell.

David Cameron hatte recht, als er Brüssel ein „Paralleluniversum“ nannte. Typisch dafür ist ein Ausspruch, den Jean-Claude Juncker bei seiner ersten Begegnung mit Christian Kern getan hat: Die Vorschläge von Sebastian Kurz zur Bewältigung des Flüchtlingsansturms im Mittelmeer seien zwar mit dem EU-Recht vereinbar, aber nicht mit der Moral. Man glaubt, nicht recht zu hören. Mit welcher Moral, bitte? Bestimmt Juncker, was in Europa zu gelten hat? Das Recht oder das, was er für Moral hält?

Genug von Bevormundungen

Mit dem Ziel der „Herstellung gemeinsamer Lebensverhältnisse“ sind die östlichen Mitglieder sehr einverstanden. Denn sie profitieren im Übermaß von den Umverteilungsmechanismen der gegenwärtigen EU. Sie haben aber andere Vorstellungen von einer künftigen Gemeinschaft als beispielsweise ein österreichischer Professor, der vor einiger Zeit davon schwärmte, dass nun bald „die Staaten aufgelöst werden. Österreich wird, so wie die anderen, weiterbestehen als Landschaft, als Gefühl, als Kultur, als Folklore, als Geschichte – aber nicht als Staat.“ Nur verstünden das die Bevölkerungen fatalerweise nicht, man müsse es ihnen daher „erklären“.

Das klingt heute geradezu illusionär. Gerade im östlichen Europa, wo man jahrzehntelang unter Fremdherrschaft gelitten hat, will man sich nicht aus dem Westen bevormundend erklären lassen, dass es nun nur noch „Bevölkerungen“ und keine Völker mehr geben soll. Gerade dort ist man, belehrt durch historische Erfahrungen, darauf bedacht, die eigene nationale Identität zu bewahren.

Man möchte nicht das eigene Volk durch ein fiktives europäisches ersetzt sehen. Das erklärt auch die Empfindlichkeit gegenüber einer Immigrationspolitik, die man sich nicht von den Deutschen aufdrängen lassen will.

Der Brexit nährt bei den östlichen EU-Mitgliedern die Besorgnis, jetzt ohne das Gegengewicht Großbritannien am anderen Ende Europas noch stärker Deutschland ausgeliefert zu sein. Zugleich steigt aber auch das relative Gewicht eines Landes wie Polen in der Gemeinschaft.

„Europa der Nationalstaaten“

Das Vereinigte Königreich ist eine bevorzugte Destination von Arbeitsemigranten aus Osteuropa. Allein Polen hat zwei Millionen Bürger nach England „exportiert“, die den eigenen Arbeitsmarkt entlasten und durch ihre Rücküberweisungen für eine Wohlstandsmehrung in der Heimat sorgen.

Aufschlussreich für eine osteuropäische Konzeption einer künftigen EU ist ein Programm, das der starke Mann der polnischen Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczyński, entwickelt hat. Statt „immer mehr Integration“ wolle er ein „Europa der Nationalstaaten, die eng miteinander kooperieren“. Anstelle desEuropäischen Parlaments solle eine Versammlung der nationalen Parlamente treten. Der Kommission sollen Kompetenzen genommen werden, dafür ein starker EU-Präsident geschaffen, der – und das verwundert angesichts von Polens exponierter geopolitischer Lage nicht – die EU auch „militärpolitisch zu einem realen Subjekt der internationalen Politik“ machen soll. Der Präsident solle auch die Außenpolitik der EU führen. Nicht zufällig fand gerade in Warschau ein Nato-Gipfel statt. Die EU zeigt sich alarmiert, dass an ihrer Ostgrenze eine militärische Bedrohung entstanden ist.

Kürzlich ist in Wien in einer nicht öffentlichen Vorstellung der Film„Winter on Fire“ gelaufen. Es ist eine Dokumentation jener dramatischen 93 Tage zwischen November 2013 und dem 20. Februar 2014, die später als die „Revolution des Maidan“ bezeichnet wurden und das Schicksal der Ukraine gewendet haben. Im Westen wird kaum verstanden, dass der Maidan eine Revolution für Europa gewesen ist. Der eigentliche Auslöser der Kundgebungen war die Forderung nach Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU.

Hoffnungen nicht enttäuschen

Unter den jungen Demonstranten mit den blau-gelben ukrainischen Fahnen gab es auch ganze Trupps, die voll Begeisterung und Hoffnung die blaue EU-Flagge mit den gelben Sternen schwenkten. Die Demonstranten vom Maidan waren andere Leute als die diversen Pseudorevolutionäre im Westen, die „Empörten“ in Spanien und die Occupy-Wall-Street-Aktionisten in New York, die ihre Zelte einpacken, wenn der erste Regen kommt und der Revolutionsspaß fad zu werden droht, weil ihn keine Medien mehr beobachten.

Ihre Idee von der Zukunft ist nicht die Enteignung anderer, sondern ein eigener Beitrag zur Zukunft aller. Europa – das ist für sie vor allem ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Würde. Dafür sind sie auch bereit, Opfer zu bringen. Sich diesen jungen Menschen zuzuwenden und ihre Hoffnung auf ein neues Europa, an dem auch sie teilhaben können, nicht zu enttäuschen, wäre eine Aufgabe für das gemeinsame Europa, das aus den steril gewordenen Ritualen der europäischen Politik herausführen könnte.

Debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

(Print-Ausgabe, 11.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.