Das Kärntner Elend

Das Kärntner Elend ist nicht zuletzt eines der Tabus. Zu wünschen wäre ein offener Diskurs, ähnlich dem deutschen Historikerstreit.

Vor einiger Zeit habe ich in Ö1 ein berührendes Feature gehört. Darin erzählte eine betagte Kärntnerin, wie ihr Mann zu Kriegsende von jugoslawischen Partisanen aus dem Haus geholt worden war. Sie hat nie wieder von ihm gehört. Jahrelang schrieb sie Briefe an slowenische und österreichische Behörden, um etwas über das Schicksal ihres Gatten zu erfahren, vergeblich. Als ich einem befreundeten Historiker von der Sendung erzählte, reagierte er ärgerlich: „Die Kärntner als Opfer? Und was ist mit den über tausend Kärntner Slowenen, die während des Krieges aus Kärnten deportiert wurden?“

Da das Schicksal der Frau laut Ö1-Bericht kein Einzelfall war, habe ich recherchiert. Was die Faktenlage betrifft, sind sich die Historiker einig. Im Mai 1945 wurden in Südkärnten 263 Menschen verhaftet, 96 davon gelten als vermisst, sie wurden wahrscheinlich erschossen oder sind in Lagern umgekommen. Doch schon was die Benennung des Geschehens anlangt, weichen die Schilderungen voneinander ab. So bezeichnet der in Graz lehrende Stefan Karner die Vermissten als „Verschleppte“. Die Klagenfurter Historikerin Brigitte Entner setzt die Verschleppten in Anführungszeichen und spricht von „Verhafteten“.

Dementsprechend unterschiedlich fallen auch die Erklärungen aus, wer die Vermissten eigentlich waren. Grundlage für ihre Auswahl waren Namenslisten der jugoslawischen Armee, die zu Kriegsende von Einheimischen ergänzt wurden. Die Motive dieser Einheimischen seien großteils „persönliche Rache, Neid, Bereicherung oder Gehässigkeit“ gewesen, meint Stefan Karner, die wenigsten auf der Liste seien hohe NS-Funktionäre gewesen, die meisten hätten am Kärntner „Abwehrkampf“ von 1918–20 teilgenommen. Dem widerspricht Brigitte Entner, die Rache an unbescholtenen „Heimattreuen“ sei ein jahrzehntealter Kärntner Mythos: „Während die Verhaftungen durchaus im Rahmen der Legalität erfolgten (siehe Annex 10 der Moskauer Deklaration), haben die außergerichtlichen Liquidationen diesen Rahmen überschritten.“

Ich maße mir kein Urteil an, wer hier recht hat. Aber warum wurde diese Kontroverse nie vor einer größeren Öffentlichkeit geführt? Die wenigsten wissen überhaupt davon. Zu wünschen wäre hier ein offener Diskus, vergleichbar dem deutschen Historikerstreit der Achtzigerjahre.

Denn das Kärntner Elend ist nicht zuletzt eines der Tabus, entstanden aus der traumatischen Erfahrung von Gewalt. Die hiesige Scheu vor jedem offenen Konflikt, die Unfähigkeit, über Opfer- und Täterschaft auf beiden Seiten zu sprechen, hat in Kärnten verheerende Folgen gehabt. Nur so war es möglich, dass dieses Bundesland zum Spielball von Verschwörungstheoretikern und skrupellosen Polit-Hasardeuren werden konnte.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2012)

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