Wie wir wurden, was wir sind, Teil drei

Als Österreich 1918 versuchte, sich selbst abzuschaffen. Ein Trauma mit bösen Folgen.

Der 12.November 1918 ist ein Datum, um das Österreichs Patrioten gern einen Bogen machen. Die Provisorische Nationalversammlung rief die Republik Deutschösterreich aus und verkündete den Anschluss an das Deutsche Reich. Staatskanzler Karl Renner endete seine Gründungsrede mit dem Ausruf: „Heil unser deutsches Volk und Heil Deutschösterreich!“ Sein sozialdemokratischer Parteifreund Otto Bauer hatte zuvor in der „Arbeiter-Zeitung“ die Ängste der Abgeordneten nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie auf den Punkt gebracht: „Es bleibt ein Wirtschaftsgebiet übrig, das für unsere Industrie viel zu klein ist. Es gibt nur einen Ausweg: Sollte das große Wirtschaftsgebiet Österreich-Ungarns nicht zu erhalten sein, dann müssten wir den Anschluss an das große deutsche Wirtschaftsgebiet des Deutschen Reiches suchen.“

Es war ein Sturz ins Bodenlose. 1866 hatte Österreich nach der Niederlage in Königgrätz den langen Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland verloren. 1918 verlor es den Glauben an sich selbst, an die Überlebensfähigkeit des geschrumpften Staates. Es ist ein Trauma, das das deutsch-österreichische Verhältnis bis heute belastet.

Der ersehnte Anschluss wurde 1918 von den Siegermächten verboten, realisiert wurde er zwanzig Jahre später, als Deutsche und Österreicher ihrem „Führer“ gemeinsam in die größte Katastrophe ihrer Geschichte folgten.


„Glaubt an dieses Österreich!“, beschwor Bundeskanzler Figl in seiner Weihnachtsansprache von 1945 seine Landsleute, nicht den Fehler von 1918 zu wiederholen. Wenige Jahre später weigerte sich Bundeskanzler Raab, Wiedergutmachungen an jüdische Organisationen zu zahlen, mit dem perfiden Argument: „Juden und Österreicher befinden sich in der gleichen Lage. Beide sind Opfer des Nazismus.“ So wurde das Trauma von 1918 überlagert von der Verdrängung der Mitschuld am Holocaust. Die Abwehr gegen alles Deutsche galt vielen fortan als Absolution vom Unsäglichen.

Österreich hat Jahrzehnte gebraucht, um mit beidem fertigzuwerden, mit dem existenziellen Trauma und mit der Verdrängung der Schuld. Das oft hysterische „Mir san mir“, verbunden mit einem komplexbeladenen deutschfeindlichen Reflex, war selbst dann noch abrufbar, als der kleine Staat seine Lebens- und Leistungsfähigkeit längst bewiesen hatte. Es mag eine sehr deutsche Sicht auf Österreichs Geschichte sein: Die Chance, eine in sich ruhende Nation zu sein, gab Österreich sich erst, als es sich im Zuge der Waldheim-Affäre auf breiter Ebene mit der eigenen Schuld auseinandersetzte. So vieles hat sich seitdem entspannt, nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern. Man braucht uns hier nicht mehr, um zu wissen, was man war und wer man ist.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.