Im Reich der Redensarten

Im Reich der Redensarten treten Deutsche und Österreicher in verschiedenen Rollen auf. Die einen als Dichter und Denker, die anderen als Tänzer und Geiger. Warum eigentlich?

Bei der Auslandskulturtagung im Jahr 2000 sagte die damalige Außenministerin Ferrero-Waldner: „Österreich hat Spitzenleistungen in innovativen technischen Bereichen aufzuweisen, im Bild des Auslandes sind wir immer noch das Volk der Tänzer und Geiger. Österreichische Schriftsteller werden in deutschen Museen und in Goethe-Instituten rasch zu deutschen Geistesgrößen. Von Hitler weiß man international eher, dass er in Wien groß geworden war, als dass er im damaligen Österreich keine Chance auf eine Umsetzung seiner politischen Ideen gesehen hat.“

Ja, so mancher muss erst im Ausland beweisen, dass er zu allem fähig ist, bevor man ihn daheim mit Jubel und Trara willkommen heißt. Aber nicht das soll hier das Thema sein, sondern Ferrero-Waldners bemerkenswertes Bild von Österreich als einem „Volk der Tänzer und Geiger“.

Die Wendung stammt aus einem Gedicht von Anton Wildgans, das er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasst hat. Es trägt den Titel „Das große Händefalten. Ein Gebet für Österreichs Volk und Kämpfer. August 1914“. Die betreffende Strophe lautet: „Denn immer noch, wenn des Geschickes Zeiger / Die große Stunde der Geschichte wies, / Stand dieses Volk der Tänzer und der Geiger / Wie Gottes Engel vor dem Paradies.“

Das Bild war wohl eine Antwort auf die ältere Redensart von den Deutschen als dem „Volk der Dichter und Denker“, mit denen die Österreicher 1914 ja auch waffenbrüderlich in den Krieg zogen. Eine interessante Rollenaufteilung: Hüben wird gefidelt und getanzt, drüben gegrübelt und gedichtet. Nun scheinen Größen wie Bach oder Wagner ebenso wenig in dieses Schema zu passen wie Wittgenstein oder Joseph Roth. Aber immerhin hat man es ja in seinem jeweiligen Metier fast zeitgleich zur absoluten Mustergültigkeit gebracht, zur „Klassik“, mit Klängen in Wien, mit Worten in Weimar.


Vor Jahren habe ich an einem Forschungsprojekt zur „Fackel“ von Karl Kraus mitgearbeitet, einem „Wörterbuch der Redensarten“. Ich war anfangs sinnigerweise auch für den Artikel über das „Volk der Dichter und Denker“ zuständig, was ein Vergnügen war, denn Kraus spielt köstlich mit den Phrasen, die Deutschen werden wahlweise zum „Volk der Dichter und Banker“ oder zum „Volk der Richter und Henker“. Den Tänzern und Geigern ergeht es kaum besser. Kraus wirft Wildgans vor, in seinem Kriegsgedicht eine hohle Feuilletonphrase in Fibelpathos gepackt zu haben.

In einem später verworfenen Konzept zum Wörterbuch haben wir die in der „Fackel“ vorkommenden Redensarten und ihre Abwandlungen thematisch gruppiert und unter eine Überschrift gesetzt. Ich schlug vor, die Belege zu den Tänzern und Geigern unter dem Titel „Die österreichische Variante“ zu erfassen. Das wurde vom Projektleiter verworfen, Begründung: „Wir sind keine Variante!“ Wir? Wenn ich die eine Redensart für die Variante der anderen halte, folgt dann daraus, dass ich ein Volk zur Variante eines anderen degradiere? Ist Patriotismus eigentlich eine Variante von Paranoia?

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2013)

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