Trauma

Wofür steht das Jahr 1914 aus deutscher Sicht? Für ein Trauma, das bis heute das Verhältnis zu den Österreichern belastet.

Der „Anschluss“ von 1938 dominiert den Blick auf die deutsch-österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Doch bereits das Jahr 1914 steht für ein Ereignis, dessen Folgen bis heute das Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern belasten, auch wenn es zunächst im Zeichen waffenbrüderlicher „Nibelungentreue“ stand.

Durch Schule und Geschichtsstudium bin ich gewohnt, den Ersten Weltkrieg aus deutscher Perspektive zu betrachten. Allein schon die Aufzählung von Deutschlands Kriegsgegnern wie England, Frankreich, Russland und die USA evoziert das Bild einer völligen Überstrapazierung der Kräfte. Dem stehen Verbündete gegenüber wie die Türkei (ein morsches, in den letzten Zügen liegendes Großreich), Bulgarien (ein rückständiger Agrarstaat) oder Österreich-Ungarn, wo die Verfallssymptome schon so mit Händen zu greifen waren, dass Karl Kraus für das Jahr 1914 die Diagnose stellte: „Selbstmord aus Angst vor dem Henker.“

Eine eigentümliche Gegenbewegung hatte Österreich und Deutschland in die Katastrophe von 1914 geführt. Den alten Machtkampf um die Vorherrschaft in Deutschland hatten die Preußen für sich entschieden. Das frisch geeinte Deutsche Reich platzte vor Energie und Tatendrang. Die „verspätete Nation“ wollte so rasch wie möglich mehr sein, als sie war, eine Weltmacht mit Flotte, Glanz und Glorie. Gehegt wurden solche Sehnsüchte nicht zuletzt in weiten Teilen des Bürgertums.


Österreich indes blickte auf lauter Niederlagen zurück, Franz Joseph hatte zunächst die italienische, dann die deutsche Karte verspielt. Gelähmt durch ihre Nationalitätenkonflikte, wurde die Doppelmonarchie nur noch mühsam durch Habsburgs Krone zusammengehalten. Für einen Krieg, einen Weltkrieg gar, reichten die Kräfte längst nicht mehr, nur deutsche Waffenhilfe rettete Österreich vor einem noch früheren Zusammenbruch. In dieser Zeit entstand auf deutscher Seite das böse Wort vom schlappen „Kameraden Schnürschuh“. Als dann nach dem Zusammenbruch von 1918 die Österreicher für den Anschluss an Deutschland optierten, war das Bild der Selbstaufgabe komplett – ein Trauma, das bis heute Verlegenheiten auslöst.

Denke ich an das Jahr 1914, sehe ich zwei Kaiser vor mir. Beide haben ihr Land in die Katastrophe geführt, aber im Gegensatz zu dem Preußen Wilhelm II. genießt der greise Habsburger in seinem Land bis heute Sympathien. Ich habe das nie verstanden. War Franz Joseph etwa nicht ein Reaktionär, der bis zuletzt an seinem Gottesgnadentum festhielt und mit der Kriegserklärung an Serbien Habsburgs Testament unterzeichnete? „Wenn die Monarchie schon zugrunde gehen muss“, hat er gesagt, „dann soll sie wenigstens anständig zugrunde gehen.“ Also österreichischer geht's nicht.

Wilhelm II. hat dafür gesorgt, dass das Preußentum für die Nachwelt nur noch mit Pickelhaube und martialischem Gehabe verbunden ist – und nicht etwa mit Aufklärung und religiöser Toleranz, für das es ja auch einmal stand. Das werde ich ihm nie verzeihen.

dietmar.krug@diepresse.com diepresse.com/diesedeutschen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2014)

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