Das Armutschkerl und das arme Tier

Die Deutschen gehen sprachlich ganz anders mit dem Armsein um als die Österreicher.

Meine Frau hat mir von einer Bekannten erzählt, die an einer schweren Krankheit leidet. „Sie ist wirklich arm“, war ihr Fazit. Obwohl wir das Gespräch auf Hochdeutsch geführt haben, hat sie das „arm“ im Dialekt ausgesprochen: „oam“.

Mir ist dabei bewusst geworden, dass es in meiner sprachlichen Prägung diese Verwendung von „arm“ im Sinn von bedauernswert gar nicht gibt. Zwar kennen wir auch „ne ärme Keal“ (einen armen Kerl), aber wenn wir das Adjektiv nicht als Attribut direkt an ein Nomen hängen, dann bedeutet arm: mittellos, das Gegenteil von reich. Am ehesten trifft es noch die österreichische Bedeutung, wenn bei uns jemand arm dran ist, aber auf einen erkrankten Menschen, mit dem wir Mitgefühl haben, würden wir diese Redewendung eher nicht anwenden. Oft ist arm auch mit einer Portion Verachtung getränkt, vor allem, wenn es in einen animalisch-kreatürlichen Kontext gestellt ist. Dann wird ein Mensch zum armen Hund, zum armen Schwein, zur armen Sau. Heikler wird's, wenn man das Tier nicht ist, sondern hat. Wer das arme Tier hat, der versüßt seinen herben Schmerz mit einer Spur Selbstmitleid. Der Duden bescheinigt dem armen Tier nur eine regionale Verbreitung. Erstaunlich, dass es nicht aus Österreich stammt.


Sprachgeschichtlich stammt das Wort „arm“ aus der indogermanischen Wortgruppe von „Erbe“. Ursprünglich wurde es nur in der Bedeutung von verwaist, vereinsamt und bemitleidenswert verwendet. Es steckt auch im Erbarmen und in der Barmherzigkeit. Erst später erhielt es im Westgermanischen die Bedeutung von besitzlos, als Widerpart zu reich. Das Österreichische Wörterbuch liefert bei der Bedeutungserklärung interessanterweise nur Beispiele für seine ursprüngliche, emotionale Verwendung. Der Duden hingegen verzeichnet zuerst die materielle Armut und dann erst die seelische.

Die Österreicher sind in ihrer Anteilnahme aber wie so oft zwiespältig. Für ein Armutschkerl empfindet man zwar Mitleid, aber zugleich auch Herablassung, doch nie zu viel, denn das Armutschkerl ist aufgrund einer Mischung aus Beschränktheit und Gutmütigkeit nie in der Lage, seiner Misere zu entkommen. Ähnlich sanft geht es zu, wenn man hierzulande eine extreme Form der Armut benennt, die Obdachlosigkeit. Der Sandler kommt vom mittelhochdeutschen Verb seinen, was verspäten, versäumen bedeutet. Das Wort Sandler ist laut Österreichischem Wörterbuch nur dann abwertend, wenn es einen Arbeitsunwilligen bezeichnet, nicht aber, wenn damit ein Stadtstreicher gemeint ist. Das deutsche Pendant lässt schon klanglich eine solche Differenzierung nicht zu. Ein Penner hat's einfach nicht besser verdient. Im Sprachlichen haben wir Deutschen einige Möglichkeiten, um der Emotion, die mit dem Elend verbunden ist, auszuweichen.

dietmar.krug@diepresse.com

diepresse.com/diesedeutschen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2014)

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