Mein Patriotismus

Oder: Warum ich noch nie daran gedacht habe, die österreichische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Nach gut zwei Jahrzehnten legalen Aufenthalts nehme ich an, dass ich längst um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen könnte. Offen gestanden habe ich mich nie nach den Bedingungen dafür erkundigt. Obwohl, die Vorstellung hätte schon was: Dem Nächsten, der mir hier mit „Scheiß-Piefke“ kommt, halte ich meinen nagelneuen Pass unter die Nase: „Denkste, Landsmann!“

Die praktischen Gründe, die für einen solchen Schritt sprächen, sind ja längst Geschichte, seit Österreich in der EU ist. Aber meine Weigerung, ein behördlich bestempelter Bürger dieses Landes zu werden, hatteimmer schon einen irrationalen Kern. Ich will kein Österreicher werden, weil ich nie einer geworden bin. Es wäre ein Etikettenschwindel.

Viele Deutsche haben ja ein Verhältnis zum Patriotismus, das für Österreicher mit ihrem Hang zur Rot- und Weißweinseligeit schier unvorstellbar ist. Vor einer der letzten Wahlen in Deutschland meinte ein Freund zu mir: „Meine Freundin wählt prinzipiell die Partei, von der sie glaubt, dass sie Deutschland am meisten schadet.“ (Jetzt raten Sie mal, wen sie gewählt hat...) So aberwitzig das klingt, es ist nur die absurd zugespitzte Form einer inneren Distanz zum eigenen Land, die in meiner Generation weit verbreitet ist. Der Kabarettist Dirk Stermann, ein Rheinländer meines Alters, bringt es in seinem soeben erschienenen „Roman einer Entpiefkinesierung“ auf den Punkt: „Wenn man irgendwann draufkommt, dass man Deutscher ist, ist das eine mittlere Katastrophe. Viel uncooler kann eine Nation nicht sein, spießig und schuldig, na bravo, lieber Gott, was für eine Mischung.“


Auch wenn mir ein solcher nationaler Selbsthass stets fremd war, kannte ich patriotische Gefühle nur in Spurenelementen – bis ich nach Österreich kam. Die Konfrontation mit einer Gesellschaft, in der so vieles so eklatant anders war, führte mir, bisweilen auch unsanft, vor Augen, dass ich weit mehr von meinem Herkunftsland geprägt war, als mir bewusst war. Es war ein eigentümlicher Patriotismus, der da entstand, eine Mischung aus Heimweh, Trotz und Nabelschau. Er entspannte sich erst, als ich anfing, in das neue Land hineinzuwachsen.

Was ich bei meinem Verzicht auf die Staatsbürgerschaft bedaure, ist, dass ich hier nicht wählen kann. Denn natürlich beschäftigen mich die hiesigen politischen Zustände weit mehr als die jenseits der Grenze. Und wäre es nicht weit sinnvoller, wenn jeder das Kreuz, das er macht, auch vor Ort zu tragen hätte? Was würde denn geschehen, wenn alle hier seit Jahren legal lebenden Ausländer das volle Wahlrecht hätten? Ich hör schon das Geschrei: „Kopftuchpflicht für Lehrerinnen, Halbmonde auf Kirchtürmen?“ Ich behaupte: Es wäre der denkbar mutigste Schritt zu einer Integration, um die dieses Land ohnehin nicht herumkommen wird.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2010)

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