Wie deutsch ist Österreich?

Oder: Warum ich manche Post nur mit spitzen Fingern anfasse, wenn ich sie ins Altpapier werfe.

Ich hatte in der Schule einen Geschichtslehrer, der liebte diese großen, ausrollbaren Landkarten. Vor allem die vom Reich Karls des Großen hatte es ihm angetan. Oft stand er minutenlang mit dem Rücken zur Klasse und betrachtete sie. Dann drehte er sich um und sagte mit so einem seltsamen Blick: „Männer, so groß müsste Deutschland heute noch sein!“ Dieser Satz wurde für uns zum geflügelten Spottwort. Als Kinder der Siebziegerjahre hatten wir einen gesunden Sinn für das Traumtänzerische, Groteske dieses Deutschland-Bilds, das locker bis zum Mittelmeer und Atlantik reichte. Historiker, konservative zumal, leben berufsbedingt in der Vergangenheit, und je verlorener sie sich im Gegenwärtigen fühlen, desto anfälliger sind sie für den Traum von vergangener Größe.

Erinnert sich noch jemand an die sogenannte „Erdmann-Debatte“? Karl Dietrich Erdmann, ein Nestor unter den deutschen Nachkriegshistorikern, sorgte in den Achtzigerjahren in österreichischen Medien mit einer These für Aufregung. Erdmann hatte sich gefragt: Wie deutsch ist Österreich heute, wo ist sein Platz in der deutschen Geschichte? Im tollkühnen Vogelflug sprach er – ausdrücklich auch mit Blick auf die Zeit nach 1945 – von „drei Staaten, zwei Nationen und einem Volk“. Österreichs Historikern standen die Haare zu Berge bei dem Gedanken, dass ihr Land neben BRD und DDR als „dritter deutscher Staat“ unter die Fittiche einer großdeutschen Geschichtsschreibung geraten könnte.


Erdmanns Ruf als Nestor unter Deutschlands Historikern ist längst Geschichte, spätestens seit nach seinem Tod braune Flecken auf seiner Weste ans Licht kamen. Als er seine großdeutschen Thesen veröffentlichte, studierte ich gerade in Aachen Geschichte. Das Interessante im Rückblick ist: Seine Position interessierte uns Studenten nicht die Bohne. Österreich ein Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte? Was für ein skurriler Gedanke. Die meisten von uns hatten schon Probleme damit, die DDR in ihrem Geschichtsbild unterzubringen. Uns hielten damals ganz andere Dinge in Atem, etwa der zeitgleich tobende Historikerstreit über die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen.

Seit ich diese Kolumne schreibe, bekomme ich ja öfters Post von Österreichern mit sehr, sehr viel Sinn fürs Deutsche. Manchmal sind auch Sachen darunter, die man nur mit spitzen Fingern anfasst, wenn man sie ins Altpapier wirft. Reisen diese Leute eigentlich nie nach Deutschland, außer mit dem Finger auf vergilbten Landkarten? Wie enttäuscht müssten sie sein, wenn sie sähen, wie desinteressiert ihre angeblichen deutschen Brüder ihren ranzigen Träumen gegenüberstehen. Denn abgesehen von einer Handvoll Sonderlingen und Modernisierungsverlierern mit sehr kurzem Haar kräht in meiner Heimat kein Hahn nach einem Deutschland, das an Ungarn und Italien grenzt.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2010)

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