Seltsam eloquent?

Wieso lassen die Österreicher uns Deutschen gern den Vortritt, wenn's ans freie Reden geht? Und warum sind wir oft so seltsam eloquent?

Unlängst habe ich mich mit einem Studentenpärchen unterhalten, das in wilder Mischehe lebt. Sie stammt aus Hamburg, er ist Wiener. Bei dem Gespräch fiel auf, dass ausschließlich sie das Wort führte. Als ich die beiden so höflich wie möglich auf diesen Umstand aufmerksam machte, grinste er nur, und sie meinte: „Ja, komisch. Auf der Uni, bei der Gruppenarbeit, halte am Ende auch immer ich die Referate.“ Es hat sich offenbar wenig geändert seit meiner Studienzeit. Wenn's ans Reden geht, lassen die Österreicher uns Deutschen gern den Vortritt.

Das hat viele Gründe, einer liegt darin, dass hierzulande die protestantische Tradition des freien Bekennens kaum Früchte getragen hat. Als Sohn eines katholischen Vaters und einer evangelischen Mutter war ich auf dieses deutsch-österreichische Eloquenzgefälle gleichsam familiär vorbereitet. Ich erinnere mich noch, wie peinlich berührt mein Vater immer auf den Teller gestarrt hat, wenn meine Mutter vorschlug, bei Tisch statt des freudlosen „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast“ doch einmal ein paar freie Dankesworte zu sprechen.

Meiner Großmutter war es stets ein Dorn im Auge, dass ich unter die katholischen Heiden geraten war. „Die beten doch nur ihre Formeln runter, die reden nie in Zungen.“ Sie war als junge Frau im ukrainischen Wolhynien von evangelischen Baptisten in einem Fluss getauft worden. Nach Flucht und Vertreibung konvertierte sie dann im Rheinland zu einer noch bekenntnisfreudigeren Freikirche, den Pfingstlern. Und damit ihr Enkel einmal sieht, was es heißt, Zeugnis abzulegen, nahm sie mich eines Tages zu einem ihrer Gemeindetreffen mit.


Da ich bis dahin nur katholische Messen kannte, war ich zunächst enttäuscht. Die Pfingstler hatten sich in einem schmucklosen Raum versammelt. Ein Prediger im grauen Anzug gab ein paar fromme Weisheiten von sich, allzu feurig klang das nicht. Doch dann sprach er direkt zur Gemeinde: „Ja, seid ihr denn wie die Pharisäer, ist es euch kein Anliegen zu bekennen?“ Das wollte ein Mann in der Reihe vor mir nicht auf sich sitzen lassen. Er stand auf und sprach laut: „Du willst hören, aus welchem Pfuhl mich der Herr geholt hat? Ich war der Trunksucht verfallen, habe meine Kinder nicht ernährt, doch Jesus hat mich errettet. Hallelujah!“ Nun gab es kein Halten mehr, ein anderer Mann sprang auf: „Ich habe gehurt und meinem Weib Schande angetan, wieder und wieder. Doch dann ist der Herr in mich gefahren!“ – „Halleluja!“, rief nun die ganze Gemeinde, und meine Großmutter flüsterte: „Hör gut hin!“ Weiß Gott, das tat ich.

Seit diesem Tag sprang ich jedes Mal freiwillig in die Bresche, wenn meine Mutter meinen Vater ermunterte, ein paar freie Worte zu sprechen. Also eines muss man meinen bekennenden Landsleuten lassen: Reden, das können sie!

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2011)

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