Endzeitreiz

Vom Endzeitreiz des platten Landes. Und warum manche Gäste nach dem Vorkoster rufen, wenn ich ihnen Wiener Wasser kredenze.

Meine Frau behauptet, sie bekäme Depressionen, wenn sie längere Zeit in meiner rheinischen Heimat leben müsste. Sie halte das Eintönig-Flache der Landschaft nicht aus. Nun ist die Jülicher Börde in der Tat eine schier endlose Ebene aus Wiesen und Äckern, aus der hin und wieder ein Baum ragt. Dafür hat die Landschaft etwas, das ein Kind der Berge nicht kennt: den existenzialistischen Reiz des weiten Horizonts, der niemals näher rückt, auch wenn man noch so lange darauf zu wandert. Ich wette, dass der Gedanke, die Erde könnte eine runde Scheibe sein, erstmals in einer solchen Gegend aufgekommen ist und nicht in einem Bergtal. Und im Winter, wenn der Wind über die gefrorene graubraune Ebene pfeift, hat das Ganze etwas von der Kulisse eines Endzeitfilms.

Na ja, ausschließlich plattes Land sieht man nun doch nicht, wenn man in meinem Heimatdorf den Blick schweifen lässt. Irgendwann stößt man auf eine Aufschüttung, die man bei uns tatsächlich „Berg“ nennt. Sie ist so hoch, wie das Loch tief ist, das man daneben gebuddelt hat. Und die Grube ist groß, so riesig, dass sie Dutzende Dörfer verschlungen hat. Klettert man auf den inzwischen bewachsenen Berg, sieht man Bagger mit vielen rund laufenden Schaufeln, in denen locker ein Autobus Platz hat. Sie graben Braunkohle ab – und nebenbei auch das Grundwasser, was zur Folge hat, dass das kleine Gewässer mit dem hübschen Namen „Malefinkbach“, das seit ewigen Zeiten mein Heimatdorf durchfloss, inzwischen versiegt ist.


Dieser Bach wechselte in meiner Kindheit mehrmals im Jahr seine Farbe, von Algengrün über Schaumig-Rotbraun bis Blassrosa, je nachdem, was die nahe gelegene Fabrik gerade loswerden musste. Mit dem Wasser war es überhaupt so eine Sache. „Trink nie direkt aus der Leitung“, mahnte mich oft die Mutter, „sonst kriegst du Flöhe im Bauch!“ Die Warnung war überflüssig, das Leitungswasser schmeckte, als hätte man einen Schluck aus dem Kinderbecken des städtischen Hallenbads genommen. Wo kein Berg ist, da ist auch keine Hochquelle,und was aus dem Boden kommt, das wird geklärt und gechlort.

Darum empfinde ich es als einen unerhörten Luxus, in einer Großstadt zu leben, in der man das Wasser direkt aus der Leitung trinken kann. Jedes Mal, wenn ich Besuch aus der Jülicher Börde habe und eine Karaffe davon kredenze, gibt es ein kleines Ritual: Dann wird die Stirn gerunzelt, am Glas geschnuppert und nach dem Vorkoster gerufen, bevor man den ersten Schluck nimmt.

Es ist mir stets ein Rätsel, warum hierorts Menschen wie in einem Katastrophenszenario Wasser in Plastikflaschen aus den Supermärkten nach Hause schleppen. Aber anscheinend braucht jeder seinen eigenen Endzeitfilm.

dietmar.krug@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2012)

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