Die Sache mit den Armeniern: Von den vielen Publikationen und von einer besonderen Freundschaft zweier Journalisten.
Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal vom Völkermord an den Armeniern gehört habe. War es in der Schule? Daheim? Auf der Straße? Ich habe als Jugendliche mitbekommen, dass es sich offenbar um ein delikates Thema handelt, dass die offizielle Türkei einen Genozid leugnet, dass es im Land selbst ein absolutes Tabuthema ist, dessen öffentliche Berührung einen ins Gefängnis bringen könnte. In einem Buchladen in Istanbul war ich dann umso überraschter, welche Fülle an Publikationen zu diesem Thema bereits erschienen sind. In manchen sind haarsträubende Theorien zu lesen, warum der Genozid eine Lüge sei, in anderen wird der Frage nachgegangen, warum es die Türkei bis heute nicht geschafft hat, einer ernsthaften, historischen Aufarbeitung den Weg zu ebnen. In wiederum anderen Büchern sind berührende Geschichten von Überlebenden zu lesen, die von deren Enkeln oder von Journalisten nachträglich aufgeschrieben worden sind. Man darf sich aber die Frage stellen, ob diese Publikationen eine nachhaltige Wirkung in der Öffentlichkeit haben, wenn die offizielle Historiographie an den tatsächlichen Geschehnissen vorbeiredet. Und man darf nicht vergessen, dass manche Autoren mit juristischen Konsequenzen rechnen mussten.
Jedenfalls hat mich ein Buch besonders beeindruckt: Hasan Cemal erzählt in seiner Publikation „1915: Ermeni Soykırımı“ („1915: Der Völkermord an den Armeniern“) nach, wie sich sein eigenes Geschichtsbild gewandelt hat. Als einer der bekanntesten Journalisten des Landes hat Cemal in seinen Leitartikeln jahrelang die türkisch-offizielle Version vertreten, wonach der Völkermord nicht die monströse Dimension hatte, wie von den Armeniern behauptet, wonach die Ereignisse mehr den Kriegswirren geschuldet waren als der jungtürkischen Politik. Früher schrieb Cemal von „tragischen Geschehnissen“ in den Jahren 1915 und 1916. Und er beschreibt in seinem Buch, wie die armenischen Terroranschläge auf türkische Diplomaten ab den 1970er-Jahren seine Sicht der Dinge beeinflusst haben. Allmählich begann Cemal, sich intensiv mit der Geschichte auseinanderzusetzen, dabei half ihm der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink. Cemal erinnert sich an einen Spaziergang mit ihm vor zehn Jahren „an einem prächtigen See in Salzburg“, wobei sie das Thema 1915 hitzig debattierten. Die zwei wurden Freunde.
Als Cemals selbstkritisches Buch 2012 erschien, sorgte es gleichsam für Empörung und Applaus in der Türkei, denn Cemal ist nicht irgendjemand. Sein Großvater Cemal Paşa war einer der jungtürkischen Führer, die den Völkermord zu verantworten hatten.
Dink. Cemals Freund Hrant Dink wurde im Jahr 2007 von einem 16-jährigen Jugendlichen auf offener Straße in Istanbul ermordet. Auch wenn dieser Tod gemeinhin als Wendepunkt in der türkischen Armenien-Debatte wahrgenommen wird – Dinks Wirken darauf zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht. Er war ein unermüdlicher Kämpfer für Demokratie, ein kritischer Geist, der Gerechtigkeit eingefordert hat. Zu Recht sind nach seiner Ermordung die Massen in der Türkei auf die Straße gegangen und haben gerufen: „Wir sind alle Armenier.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)