Verteidigung der 50-Minuten-Stunde

Die Schulglocke sollte nicht mehr läuten, meinen manche: Das klingt sehr modern, es spricht aber viel dagegen.

Eight Days a Week“ an Liebe versprachen die Beatles – ein neues Wiener Hotel wirbt damit, „25 hours a day“ offen zu halten (und mit einem Spruch aus „Alice in Wonderland“: „We are all mad here“); desperate Fußballer schwören gern, sie würden „200 Prozent“ geben: Solche das Maß sprengenden Übertreibungen haben etwas Streberhaftes an sich.

Ganz im Gegensatz zur 50-Minuten-Stunde und zu ihrem universitären Pendant, der um eine akademische Viertelstunde auf 45 Minuten gekürzten Stunde: Sie verkürzen das Maß – und sind zivilisatorische Errungenschaften, gewiss nicht ganz so wichtig wie der Sabbat respektive die Sonntagsruhe, aber im gleichen Sinn. Pausen müssen sein, und zwar Pausen für alle, geregelte Pausen, nicht solche, die dann ausgerufen werden, wenn's der Frau Chefin, dem Herrn Lehrer oder einer sonstigen Autorität gerade in den Sinn kommt. Das symbolisiert die Schulglocke: „Ring, ring, goes the bell“, wie's in einem der schönsten Songs von Chuck Berry heißt.

„Dass die Schulglocke alle 50 Minuten läutet, das soll weg, das ist ein leidiges Thema“, hat unlängst die zuständige Ministerin gesagt. Sie ist nicht die Einzige, die für die Abschaffung der 50-Minuten-Stunde in den Schulen eintritt. Sehr modern klingt das, vorbildlich reformfreudig, flexibel und dereguliert, nach Sprengen von Grenzen, Aufweichen verkrusteter Strukturen und so weiter, vielleicht geht's manchen Lesern wie mir: Ich kann das nicht mehr hören.

Und ich gebe zu bedenken: Es hat seinen guten Sinn, dass Unterrichtseinheiten 50 Minuten dauern, dass dann eine Pause folgt. 50 Minuten lang kann man sich konzentrieren oder die Langeweile erdulden. 50 Minuten erträgt man gerade, dass der Philosophieprofessor selbst den Kant nicht versteht, dass die Englischprofessorin kein „th“ beherrscht, dass die Biologielehrerin mit ihren Lieblingen in Projektbiotopen wühlt, dass der Deutschlehrer und der Klassenneoliberale standhaft Floskeln über Grundwerte austauschen und das für eine Diskussion halten. So etwas passiert, da hilft keine Bildungsreform, das ist okay, man muss so etwas ertragen lernen, das Leben ist auch keine Hetz, keine Kinderjause und kein Ponyhof. Aber bitte in der Schule mit der Aussicht auf eine Pause, nach der ein anderer Lehrer und ein anderes Fach kommen. Mit denen auch wieder nicht alle ihre helle Freude haben werden...

Natürlich gibt es spannenden Unterricht, bei dem sich Schüler und Lehrer nach 50 Minuten denken: Bitte eine zweite Halbzeit! Aber was ist, wenn sich das nur die Lehrer denken? Oder nur wenige Schüler? Wer bestimmt, was spannend ist? Wer lässt läuten? Wer dreht an der Uhr?

Bis das alles sehr genau durchdacht ist, soll bitte die Schulglocke in gewohnter Regelmäßigkeit läuten.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2014)

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