Sexuelle Erprobung? Das Unbehagen mit der Reifeprüfung

Die Zentralmatura beschäftigt derzeit nicht nur die Kandidaten. Verstärkt das Wort die Angst? Abitur klingt weniger traumatisch.

Mit viel Skepsis, einigem Respekt und etwas Unbehagen verfolgen nicht nur Gymnasiasten und ihre Eltern in diesen Tagen die Zentralmatura. Das mag auch am Wort liegen: Bei zentral denkt man in Wien an den Zentralfriedhof und im restlichen Österreich an in Wien angesiedelte schikanöse Instanzen.

Und auch Matura – offiziell: Reifeprüfung – klingt gewichtig: ernster, fordernder als das deutsche Pendant, das Abitur, das einfach einen Abgang bedeutet. Natürlich kann man mit Hang zum Tragischen auch dieses Partizip Futur schicksalshaft deuten: „Abiturus sum: Ich werde abgehen“, sagt Friedrich Torbergs Romanheld, der Schüler Gerber, bevor er sich aus dem Fenster stürzt, weil er Angst hat, nicht für reif erklärt zu werden.

Denn das maßt sich die Matura wörtlich an: die Reife eines jungen Menschen zu prüfen. Nicht nur sein Wissen und Können, nein: seine Reife. Das impliziert auch: Lebensreife. „Sie wissen nicht weiter, Kandidat Leben?“, fiebert der Schüler Gerber: „Leben. Leben Franz. Ganz unreif, ja.“

„Jeder, der mit der Maturitätsprüfung seine Gymnasialstudien abgeschlossen hat, klagt über die Hartnäckigkeit, mit welcher der Angsttraum, dass er durchgefallen sei, die Klasse wiederholen müsse u.dgl., ihn verfolgt“, schrieb Sigmund Freud in der „Traumdeutung“ (1900). Ich darf bescheiden widersprechen: Nicht alle. Ich träume nie von der Matura. (Nur vom Organisch-Chemischen Praktikum für Fortgeschrittene, wenn's interessiert.) Aber so gut wie jeder, der maturiert hat, hat eine Schnurre darüber zu erzählen. Ich auch. Gestatten.

Als typischer spätpubertärer Freudianer hatte ich das Werk des großen Seelenforschers zum Spezialgebiet für die mündliche Matura aus Psychologie/Philosophie gewählt. Tatsächlich wurde ich über die „Traumdeutung“ gefragt, erzählte auch brav über den Traum als Wunscherfüllung, den manifesten Trauminhalt, hinter dem sich der latente, meist anstößige Inhalt verbirgt usw., als der Vorsitzende der Reifeprüfungskommission, ein jovialer Humanist, meinen Redefluss mit einer Zwischenfrage unterbrach: „Und wenn Sie von der Matura träumen sollten, wovon träumen sie dann wirklich?“

Mit der felsenfesten Gewissheit eines Mannes, der seinen Freud gelesen hat, antwortete ich ohne Zögern: „Von sexueller Reife und Erprobung.“

Diese Deutung ist zwar eigentlich von Wilhelm Stekel, Freud zitierte sie nur wohlwollend. Aber mir war großer Lacherfolg beschieden.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2015)

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