Wie lieb muss das Volk sein?

Erdogan (r.) mit Volk
Erdogan (r.) mit VolkAPA/AFP/TURKISH PRESIDENTIAL PRE
  • Drucken

An sein „liebes Volk“ hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ein Massen-SMS geschrieben. Was sagt die Netiquette denn dazu?

Auch in Zeitungsredaktionen steht man bisweilen vor dem Problem, ein „Mail an alle“ senden zu müssen: Wie spricht man eine Allgemeinheit an? „Meine Lieben“ klingt ein bisschen zu gönnerhaft; bei „Ihr Lieben“ glaubt jede Zweite und jeder Dritte (über diese kleine Geschlechterdiskriminierung darf bitte gerätselt werden) an Heuchelei; „Liebe Kollegen“ klingt den Liberalen zu gewerkschaftlich und den Oberen zu ranglos, „Geliebte in Christo“ den Andersgläubigen zu andersgläubig, „Liebe Leute“ den Ernsten zu spaßig; nur zwanghafte Komiker (die's bei uns nicht gibt) weichen auf Vokative wie „Freunde der Blasmusik“ oder „Freunde und Zwetschkenröster“ aus, nur aus dem Urlaub wirkt die Adresse „Liebe Zurückgebliebene“. In der „Presse“-Redaktion haben wir uns auf die zunächst als originell erfundene und empfundene Anrede „Liebe alle“ eingependelt; da die hausinternen Mails nicht durchs Lektorat laufen, grübeln wir oft, ob das „alle“ nicht großgeschrieben werden sollte.

(Soeben bescheidet uns das Lektorat: Nein. Schluss mit der Grübelei!)

Kaiser Franz Joseph wählte bekanntlich zu tragischem Anlass 1914 die Anrede „An meine Völker“. Das ist Recep Tayyip Erdoğan nicht vergönnt, wir wissen nicht, ob er damit im Stillen hadert, oder ob er sein Volk nicht ohnehin lieber im Singular hat. Er entschied sich laut Medienberichten jedenfalls dazu, ein mit R. T. Erdoğan gezeichnetes Massen-SMS so zu formulieren: „Mein liebes Volk, gib nicht den heroischen Widerstand auf, den du für dein Land, deine Heimat und deine Fahne gezeigt hast.“

Diese scheinbar unverfängliche Botschaft ist, wie es sich für einen schlauen Staatsmann gehört, in Wirklichkeit höchst verfänglich: Wer bisher, etwa weil er/sie zu müde war oder andere Sorgen hatte, keinerlei heroischen Widerstand geleistet hat, dürfte das SMS eigentlich nicht annehmen und muss fortan grübeln, ob er sich aus dem Kollektiv „liebes Volk“ nicht ausgeschlossen fühlen muss.

Gehört er dann zu einem anderen Kollektiv namens „nicht liebes Volk“ oder gar „böses Volk“, das wie das liebe Volk eine echte Teilmenge des ganzen Volkes ist? Oder ist das Volk, das Erdoğan sich zuordnet respektive unterordnet, per definitionem lieb? Ist ein nicht liebes Subjekt überhaupt noch Subjekt? Bedeutet nicht jedes Attribut automatisch eine Spaltung oder wenigstens einen Spaltungsversuch? Kann ein Mann, den man mit oder ohne Ironie Sultan nennt, das zulassen oder gar fördern?

In diese hoffentlich mehr populären als populistischen, volkstümlichen, aber nicht völkischen Grübeleien dringt die von mir erbetene Auskunft aus der Türkei: Das SMS ist wirklich angekommen, bei einem um vier, bei einem anderen um sechs Uhr früh, man fragt sich: Hat der Landesvater die Nachtstunden in Sorge am Computer verbracht? Etwas ernüchternd dagegen die Auskunft: Im Original steht „aziz milletim“, das heißt liebes oder geschätztes Volk, aber kein besitzanzeigendes Fürwort. So klingt es ja fast schon bescheiden.

E-Mails an:thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.