Existenzialismus pur: Statt zur Camus-Lektüre rein in den Megastore

Warten muss nicht völlig umsonst sein. Um das Absurde zu erfahren, stellt man sich am besten für scheinbar günstige Sachen an, die man ohnehin nie brauchen wird.

Das Gefühl des Absurden, das die Philosophie und die Literatur seit einigen Generationen arglistig beherrscht, lässt sich am besten beim Warten erfahren. In einem seiner lichten Bücher hat Albert Camus die Befindlichkeit, wenn ich mich recht erinnere, sogar noch gesteigert. Ein Erzähler fantasiert darüber, wie er irgendwo im Maghreb lange auf einen Autobus wartet, um ihn dann, als der anhält, freiwillig weiterfahren zu lassen, ohne einzusteigen. Camus ist später leider ins falsche Auto gestiegen, aber das war eine ganz andere, fatale Absurdität.

Die Erfahrung der Entfremdung kann man neuerdings auch unfreiwillig in der U4 in Wien machen, wenn gerade wieder eine regelmäßige Betriebsstörung herrscht und die unregelmäßigen Züge bereits voll sind. Wer aber noch mehr Existenzialismus will, der braucht nicht „La mort heureuse“ oder „L'étranger“ zu lesen, der kann es auch billig haben und dabei sein, wenn ein neuer Supermarkt mit trendigem Gut lockt.

Diese Woche wurde vor den Toren von Erdberg mit ganz günstigem Hightech geworben. Beim Umsteigen in der Station Wien-Mitte von der überraschend pünktlichen U4 zur U3 wurde ich abgelenkt. Alle strömten hinauf zum neuen Halbhochhaus, das noch gar nicht richtig eröffnet ist. Dort gab es einen Megastau vor einem neuen Megastore. Blockweise wurden kaufgierige Bürger von Blockwarten in signalgelben Jacken eingelassen. Dem kollektiven Zwang konnte ich naturgemäß nicht widerstehen. Ich sagte per nagelneuem Senioren-Klapp-Mobiltelefon das Interview mit einem fast bedeutenden Schriftsteller wegen plötzlicher Unpässlichkeit kurzfristig ab und stellte mich an wie einst in der DDR.

Liebe Mitkonsumenten, es war ein Erlebnis! Drei solche Schleusen gab es zu überwinden, bis wir Wut-Shopper im Tempel der Schnäppchen eingelassen wurden. Für mich aber wurde dieser Rausch, der die fremden Visionen von Camus bei Weitem übertraf, deshalb so schön, weil ich mir vorgenommen hatte, gar nichts zu erwerben, sondern nur zu beobachten, wie Leute sich benehmen, die glauben, rasch ein dringendes Geschäft zu machen. Die meisten wirkten ihrer Miene und ihrer Körperhaltung nach fest entschlossen, die Sache zügig zu erledigen.

Ich aber lungerte eine gute Stunde herum und malte mir aus, wie schön es doch sei, kein Flachbild-TV-Gerät mit 666 Trillionen Pixel, keinen elektronischen Nasenhaar-Trimmer mit Sensortasten-Timer oder irgendeine Blackbox heimzutragen, deren Installation mir doch wieder nicht gelingen würde. Stattdessen habe ich mir später auf dem Markt eine Zwiebel gekauft. Man gönnt sich ja sonst nichts.

norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2012)

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