Tempo, Tempo: Das Nestroy-Jahr ist fast wieder vorbei

Fünfstünder? Nein, danke! Nach zwei rasanten und hoffentlich musikalischen Stunden ist meist Schluss mit der Hetz in der Vorstadt.

Im November, wenn die Hysterie des Saisonauftaktes bereits abgeklungen ist, alle Nestroy-Preise vergeben sind und schon die ersten Adventhütten aufsperren, wird es im Theater beunruhigend ruhig. Viel weniger Premieren! Jetzt ist für den Kritiker sogar im Gegengift der günstigste Moment gekommen, darüber nachzudenken, was man heuer in den moralischen Anstalten überhaupt an Spektakeln betrachtet hat und warum.

Mein Eindruck: Der endlos weihevolle Abend, an dem sich ernste Regisseure damit abmühen, Dostojewski komplett, Shakespeares Historien en suite oder Homer total auf simultaner Bühne bloßzustellen, ist out. In sind die Neunzigminüter, in denen selbst schwere Stoffe das Format einer Telenovela verpasst bekommen und auch die passenden Melodien dazu.

Das soll mir recht sein, weil es praktisch ist, denn auch die Kritiken in den Zeitungen werden allgemein kürzer. Ich habe es nachgemessen. Kaum noch werden die Beleuchter und die Schneider lobend erwähnt. Während ich also über den Verfall der Sitten nachdenke, trifft es mich wie ein Schlag: Das runde Nestroy-Jahr ist fast schon vorbei (in Graz musste der arme Mann vor 150 Jahren sterben!) – und mir wäre gar nicht besonders aufgefallen, ob dieses Genie, das „oben an die Bildung“ und „unten an die Banalität“ anstieß (© Karl Kraus), auch genug gespielt und genügend gewürdigt wurde. Viel zu wenig, denke ich mir, denn kein anständiges Theater in Wien sollte es sich leisten, auch nur ein Jahr ohne neue Inszenierung dieses Werks zu sein. Das hieße Resignation.

Genau in diesem Moment aber landet eine Box mit DVD-Aufnahmen legendärer Inszenierungen auf meinem Schreibtisch. Die Internationale Nestroy-Gesellschaft und die Firma Hoanzl würdigen das Jubiläum mit zehn Produktionen aus dem Burgtheater, der Josefstadt und dem Volkstheater. Die Aufführungen bieten nur Bemerkenswertes aus sechs Jahrzehnten, also kann ich mich nun zumindest bis zum Silvesterabend der schönen Illusion hingeben, dass früher alles besser war. Das fällt nicht schwer, weil die Serie 1956/57 mit Josef Meinrad und Inge Konradi im „Jux“ beginnt, 2006 mit Nicholas Ofczarek in „Höllenangst“ endet. Wenn sich das Burgtheater hinab zur ebenen Erde begab und richtig grantig wurde, war das immer gut für dieses hohe Haus.

Auch andernorts gibt es Stoff, der tatsächlich frisch geblieben ist – zum Beispiel ein „Gewürzkrämerkleeblatt“ mit Hilde Sochor, das ihr Mann Gustav Manker 1972 im Volkstheater inszenierte, oder die Charakterschauspieler in der Josefstadt, von Hans Moser und Elfriede Ott bis zu Helmuth Lohner und Otto Schenk. Alles klassisch! Bös und gemein ist es allemal. Was diese Aufnahmen auch eint, ist das Tempo. Irrsinn bis Mitternacht? Nein, danke! Nach zwei Stunden ist meist Schluss mit der Hetz in der Vorstadt.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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