Wenn der Dow Jones den Kaufzwang entfesselt

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Börsenkursen und ganz persönlichem Konsumverhalten? Was, wenn die Blase platzt?

Zu den beliebten Gesellschaftsspielen inzwischen saturierter Generationen gehörte es einst, das eigene kleine Schicksal mit angeblich bedeutenden Ereignissen zu verknüpfen – mit dem Fall der Mauer am 9.November 1989 zum Beispiel oder jenem der Zwillingstürme am 11.September 2001, wenn nicht sogar mit dem entscheidenden Tor, das Hans Krankl der deutschen Nationalmannschaft am 21.Juni 1978 bei der Fußball-WM in Argentinien zufügte.

Die berühmteste dieser Assoziationen lautete im vorigen Jahrhundert: „Wo warst du, als am 22.November 1963 in Dallas US-Präsident John F. Kennedy erschossen wurde?“ Das weiß ich noch genau. Im Bett, obwohl am nächsten Tag, einem Samstag in einem für Tiroler Verhältnisse ungewöhnlich milden November, niemand in den Kindergarten gehen musste. Fünfjährige gingen damals früh schlafen. Ich habe an jenem Freitag nicht einmal gewusst, dass auch Aldous Huxley und C. S. Lewis gestorben sind, und Politik hat mich damals noch viel weniger interessiert als heute.

Nein, die großen historischen Daten verbinde ich kaum mit der eigenen Geschichte. Aber einen Tick habe ich schon, wenn es um Großes geht: Zahlenmystik. Kann es sein, dass der Dow Jones, der FTSE oder der Nikkei-Index und noch einige andere imaginäre Kurven mein konkretes Handeln unbewusst, aber wesentlich beeinflussen? Derzeit bewegt mich die Frage: Was wirst du wieder einmal an sinnlosem Zeug gekauft haben, wenn der DAX die magische Grenze von 10.000 überschritten haben wird? Nach dem Rekord von 9747 Punkten zeigte sich das wilde Vieh diese Woche unentschlossen, als ob ihm die Luft ausginge. Spätestens in der Fastenzeit wird aber mit soliden 10.000 zu rechnen sein.

Das macht mir ein wenig Angst. Meist zeige ich kurz vor solchen „historischen“ Börsentagen ein irrationales Konsumverhalten und spüre den Drang zur Veränderung. Kurz bevor der Dow Jones am 29.März 1999 die Marke 10.000 überschritt, hatte ich beschlossen, den Job zu wechseln, und zudem noch eine beschichtete Bratpfanne gekauft, obwohl die neue Wohnung noch nicht gefunden war.

Darauf könnten jene sagen, die mit der Psychologie des Gegengiftesvertraut sind, das sei typisches Bullenverhalten, aber der Kaufzwang stellt sich bei mir auch ein, wenn die Blase platzt und der Verlauf steil nach unten zeigt. 2002 zum Beispiel habe ich mir eine mechanische Schreibmaschine gekauft. Ein Nachahmungstrieb, vermutete ich, denn es war ein Modell, das auch Ernest Hemingway benutzte. Doch unmittelbar danach war beim FTSE mehrfach dramatisch der Bär los, er sank auf unter 4000. Drei Jahre zuvor hatte er fast 7000 erreicht. Dort ist er immer noch nicht. Und der Corona fehlt bisher das Farbband.

Ich weiß nicht, ob erst der Index in Frankfurt oder doch der in London die Marke 10.000 durchstoßen wird. Aber eines scheint mir gewiss. Falls ich demnächst ein E-Bike kaufe, wird kurz darauf beim Nikkei die Hölle los sein.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2014)

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