Das böseste aller Rituale: Der ganz gemeine Elfer

Ferne Forscher behaupten, dass Länder mit ausgeprägtem Kollektivismus bessere Freistoßschützen haben.

Das Eröffnungsspiel in São Paulo ließ unser Gegengift-Team bereits Schlimmes ahnen: Die WM könnte ungerechterweise wieder einmal durch den gemeinen Brauch des Elfmeterschießens entschieden werden. Nicht umsonst heißt die böse rituelle Handlung ganz brutal Penalty.

Diese Aussicht wirkt auf mich traumatisierend. Wenn wir nicht dabei sind (also fast immer), bin ich aus Gründen, die ich mit dem Verlust der Jugend längst vergessen habe, ein Fan des englischen Nationalteams. Beim Kicken für dessen Erfinder zu sein ist meist noch schlimmer, als Malta oder Österreich zu unterstützen – nur eben auf höherem Niveau. Der Sport, bei dem 22 erwachsene Männer darum raufen, den Ball mit fast allen Mitteln in vollem Umfang hinter die gegnerische Torlinie zu bringen, wird nämlich in den entscheidenden Momenten zur reinen Nervensache.

Ach, die armen Insulaner mit ihrer Fairness! Sie sind in ihrer „splendid isolation“ offenbar ziemlich labil, wie selbst das Magazin The Economist feststellt. Unter der Rubrik „Fußball und Psychologie“ wird diese Woche diagnostiziert, dass es sich um die „englische Krankheit“ handle. Studien aus Australien und Norwegen belegten: Manche Nationen könnten besser mit dem Druck umgehen, dass 120Minuten hart erkämpfte Pattstellung in einer Art Lederlotterie enden.

Manche überhaupt nicht.

Statistiken von den EM- und WM-Endrunden seit 1976 weisen nach, dass den Penalty-Stress bisher unser liebster nördlicher Nachbar am besten bewältigte, vor allem auch, als er noch Tschechoslowakei hieß. 1976 haben die Spieler der ČSSR im Finale gegen Deutschland jeden Elfer getroffen (Uli Hoeneß erinnert sich gewiss an Belgrads Tristesse). Für das ČSSR-Team hieß es auch 1980 „Bingo!“. Losgelöst von der Slowakei haben die Tschechen selbst 1996 jeden Strafstoß verwertet.

So gut waren nicht einmal die Deutschen, die nach 1976 immerhin fünfmal solche Duelle gewonnen haben. Die Engländer hingegen haben sie seit 1990 sechsmal verloren und nur einmal gewonnen. Ähnlich labil waren die Niederländer und Italiener.

Woran liegt das? Die Forscher vermuten, dass jene Länder besser treffen, die ihrer Natur nach mehr dem Kollektiv verhaftet sind. Nationen mit ausgeprägtem Individualismus hingegen sind übel dran. Vor allem ihre Stars kriegen häufig Nervenflattern.

Die EU hat auf diese WM zwar wenig Einfluss, aber Großbritanniens Premierminister Cameron kann man nur raten, künftig wenigstens im Ansatz mannschaftsdienlich zu denken, damit Englands Helden ein Vorbild an Solidarität haben. Sonst ist die Insel schon wieder nicht reif für einen Sieg.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2014)

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