Woche 1666: Ein Blog aus der Vorhölle im Bauch von Erdberg

Der trendigste Trend im Journalismus der Zukunft: Die Reportage aus dem eigenen Büro. Ganz exklusiv ziehen auch wir uns heute aus.

Ein geschätzter Kollege von mir hat den Arbeitsplatz gewechselt. Ich kenne Thomas Trenkler seit der Frühphase des „Standard“. Dort gab es zuletzt seriell demütigende „Anpassungskündigungen“ verdienter Redakteure. Thomas zog die Konsequenz, er wechselte zum „Kurier“.

Auf seinem privaten Blog kann man über die erste Woche in der neuen Redaktion lesen. Unter dem griffigen Titel „Vom Tampon zur Zigarettenmarke“ schreibt er über das Raum- wie das zwischenmenschliche Klima beim neuen Arbeitgeber. Diese Art Reportage finden wir im Großraum des „Gegengiftes“ entzückend. Man muss sich nicht einmal aus dem Büro entfernen, um tollste Abenteuer zu vermitteln, und kann sicher sein, dass die Quote der Leser zumindest innerredaktionell sehr hoch sein wird.

Sofort kommt bei den 366 Reportern hier in Erdberg Neid auf. Wir können das auch, mit unseren lachsfarbenen wie auch boulevardesken Vorleben! Weil wir aber stur auf Print vertrauen, dürfen Sie nun exklusiv den ersten gedruckten Blog aus der Vorhölle des „Gegengiftes“ lesen. Aus 1666 Wochen wurden kostbare Tagebucheintragungen genommen. An Peinlichkeit haben wir uns nichts erspart!

Woche 1666: Rainer Nowak wird bei einer Journalisten-Gala geehrt. In seiner Dankesrede tadelt er die Eitelkeit und das Jammern in der Kollegenschaft. Wir alle sollten weniger gockeln, etwa bei Diskussionen und im Internet, sondern einfach bessere Zeitungen machen. Was hat mein Chef gegen mich? Warum stellt er mich vor so vielen bescheidenen Edelfedern bloß?

Woche 1666: Christoph Kotanko im Haus der Industrie getroffen. Wir reden nicht über den „Kurier“, sondern nur über uns selbst. Ich sollte endlich zwei Umzugskisten aus der Seidengasse entsorgen, die in meinem Büro seit zwölf Jahren ungeöffnet herumstehen.

Woche 1666: Michael Fleischhacker beim Talk im Privat-TV gesehen. Bilde ich mir das nur ein, oder hat er tatsächlich einen leichten Schweizer Akzent? Auch sein Twitter-Bild vom Ballhausplatz scheint exotisch zu sein.

Woche 1666: Oscar Bronner bei einer Gala aus der Entfernung erblickt. Flüchtig gewinkt. Er winkte nicht zurück. Vielleicht sieht er schon schlecht. Vielleicht sehe ich schon schlecht. Es könnte auch ein ganz anderer Herausgeber gewesen sein. Sie schauen inzwischen alle gleich aus.

Woche 1666: An Hans Winkler gedacht. Er schreibt seit einigen Jahren in einer Vorfeldorganisation des „Gegengiftes“. Bei ihm durfte ich 1984, noch als verbummelter Student, in der Außenpolitik der „Kleinen Zeitung“ aushelfen! Er wies mir damals in Woche1 eine Schreibmaschine zu, zeigte mir auch den Nachrichtenticker, brachte mich zum Kaffeeautomaten und gab mir im wohltemperierten Layout weitere Utensilien: „APA, Pick und Scher', fertig ist der Redakteur“, sagte er.

Die Mannschaft in der Hitze der Produktion lachte dreckig. Das hätte mir damals eine Lehre sein sollen.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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