Im Sturzflug zum Unglück auf allen verfügbaren Kanälen

Darf man noch Privatsphäre haben? Durch unsere Vernetzung sind wir alle inzwischen wohl eher „Personen der Zeitgeschichte“.

Katastrophen wecken Wesentliches und zugleich das Schlechte des Journalismus. Ein Flugzeug zerschellt aus noch unbekannter Ursache? Nach kurzem Schock flüchten die ganz abgebrühten Reporter während der Konferenz in zynische Bemerkungen, zugleich erwacht der Jagdinstinkt: Wer, was, wann, warum... Da bleibt wenig Raum für Mitgefühl. Nach derlei Unglück kommt die Stunde der „Witwenschüttler“, wie Veteranen im Gegengift zu sagen pflegen: „Guten Tag, sind Sie die Gattin von X.? Wir brauchen ein Foto von ihm, er ist nämlich tot und ein Mörder.“

Die Unterschiede zwischen tiefem Boulevard und extrem seriöser öffentlich-rechtlicher Anstalt sind fließend. Im konkreten Fall des vielleicht bewusst herbeigeführten Absturzes eines Airbus A 320 rühmt sich die angesehene „New York Times“, dass sie als erste Zeitung über die Vorgänge im Cockpit berichtet hat, sie nennt den vollen Namen des Kopiloten und auch, obwohl die deutschen Behörden darum gebeten haben, es nicht zu tun, den des Piloten, sie bildet trauernde Angehörige an der Unglücksstelle ab.

Geht da noch mehr? Ein angesehenes deutsches Wochenblatt, das am Donnerstag im Wirtschaftsteil zum konkreten Anlass des Absturzes ganzseitig über mangelnde Sicherheit im Lufthansa-Konzern spekulierte, nennt kurz danach auf der Online-Plattform nicht nur den vollen Namen, sondern gibt auch einen Link zur Adresse des mutmaßlichen Täters. Auf Twitter wird dann die „unaufgeregte“ Berichterstattung der eigenen Redaktion gelobt und als „wohltuend“ empfunden. Der Kopilot aber? Der sei dann eben schon eine „Person der Zeitgeschichte“.

Es wäre billig zu klagen, dass allein soziale Netze an solcher Verrohung Schuld trügen. Leichtsinniger Umgang mit Privatsphäre ist nicht an das Medium gebunden, sondern liegt in der Botschaft. Vorschnelle Urteile, Diffamierungen und Rufmorde sind auch in Print seit jeher üblich, man kann sie sogar auf Büttenpapier verüben oder in Stein meißeln. Aber das Tempo, mit dem sich irre News ungeprüft online, über Foren wie Facebook verbreiten, begünstigt Fehler besonders leicht.

Da geht noch viel mehr. Wie könnte es sonst sein, dass sich zwei Parade-Exemplare des österreichischen Boulevards parallel damit blamieren, das falsche Foto eines jungen Mannes auf dem Cover abzubilden, zu behaupten, seine Motive zu kennen, zugleich anzuklagen und zu urteilen? Ja, so eine Schlagzeile erregt: „Todesflug: Es war Mord“. Solche Scharfrichter bilden dann auch noch das Wohnhaus der Eltern und die Wohnung des mutmaßlichen Täters ab. Wer genau wissen will, wo das ist, kann sich bei jenen „seriösen“ journalistischen Allzweck-Waffen kundig machen, die bereitwillig weitere Details zu dieser „Person der Zeitgeschichte“ preisgeben.

Nein, solche Unarten sind nicht bloß Online-Phänomene, sie passieren auf allen Medien-Kanälen, natürlich auch hier – wegen des Zeitdrucks, aus Dummheit, wegen der verführerischen Wirkung sensationeller Nachrichten und manchmal auch aus bösem Kalkül. Warum sollen wir Journalisten besser sein als andere – Gaffer bei Unfällen zum Beispiel? Um ein wenig Buße zu tun, geben wir hier im Gegengift eine Empfehlung weiter: Lesen Sie doch in John Stuart Mills „On Liberty“, wenigstens die Passagen über Moral. Gibt es im Netz sogar gratis.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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