Der echte Haselstock zu Peter Handkes langer Wanderschaft

Warum immer nur lesen? Auch durch alltägliche Objekte kann man neuerdings behutsam an die Literatur herangeführt werden.

Zugegeben: Ich bin Insasse der Abteilung Chronische Bibliophilie in der Anstalt des „Gegengifts“. Deshalb war es ein Fehler, dass ich mir erlaubt habe, gestern Früh kurz beim Grillparzer-Haus vorbeizuschauen, dem neuen Literaturmuseum in Wien. Die meisten Leserinnen und Leser kennen das doch bereits, aus Bibliotheken: Nur rasch ein Buch ausleihen, aber sobald man den Lesesaal betritt, bleibt man hängen, im vertrauten Gefühl, unter Gleichgesinnten mit fast mönchischer Konzentration seinem Laster zu verfallen. Die größten Toren nämlich sind laut Doctor Brants „Narrenschiff“ die Büchernarren.

Für solche ist das Literaturmuseum der ÖNB eine ähnliche Verlockung wie für andere Süchtige eine Apotheke oder eine Weinhandlung in Chianti. Man kann Stunden an solch einem Locus amoenus verbringen und merkt gar nicht, dass beträchtlich viel Zeit vergangen ist, die man sinnvoll vertan hat, statt am Freitag nach eins gewissenlos eine Kolumne zu schreiben.

Jawohl, sinnvoll! Es ist nämlich anregend, sich im Grillparzer-Haus Österreichs Dichtern auf verschlungenen Wegen und mit allen Sinnen zu nähern. Ich kann vor allem jene armen Schüler, denen die neue Zentralmatura im Hauptfach Deutsch bedrohlich viel Bürokratie zumutet, zugleich aber einiges an Literatur entzieht, ermuntern, dieses Museum zu besuchen. Vielleicht stellt sich bei aller multimedialen Ablenkung dann doch der Wunsch ein, zu Hause ein Buch von Ilse Aichinger, Maja Haderlap, Florjan Lipuš oder sogar Robert Musil zu lesen und gleich selbst in einer kreativen Ecke der Dauerausstellung einen eigenen Text zu verfassen.

Bei meiner ersten Erkundung dort hat mich nicht so sehr die Schrift oder das Hören, sondern vor allem das simple Haptische angesprochen: das Modell eines Bühnenbilds für Ferdinand Raimunds „Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär“, das 1826 in der Leopoldstadt uraufgeführt wurde, die Perücke, mit der Egon Friedell bei einem Sketch den Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe imitierte, oder gar das Rosenhaus aus Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ (1857), das als kleiner Nachbau im Maßstab von 1:200 präsentiert wird. Ein fiktives Gebäude materialisiert sich hier. Beinahe sieht es so aus wie in meiner Fantasie.

Großen Eindruck hat auf mich der Gebrauchsgegenstand eines Zuchtmeisters der deutschen Gegenwartssprache gemacht. Peter Handke stellte einen Wanderstock zur Verfügung, einen von vielen, mit denen er bisher durch die Welt gegangen ist. Dieser Haselstock aus dem Jahr 1980 verrät sogar ziemlich genau, wo der Dichter damals unterwegs war. Handke hat Ortsnamen hineingeschnitzt, sie führen nach Kärnten und Slowenien, ja sogar nach Italien, die Orte kommen sechs Jahre später auch in seiner Erzählung „Die Wiederholung“ vor.

Wenn solch zeichenhaftes Holz bei heimischen Poeten zur Mode wird, brauchen wir bald ein eigenes Prügelmuseum, mit Extrazimmer für literarisch relevante Peitschen und Pelze seit Leopold von Sacher-Masoch.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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