Mit Darwin im Sommer den Pflanzen beim Wachsen zusehen

Strandlektüre muss leicht sein, oder? Falsch! Gerade in der schönsten Mußezeit hat man die beste Gelegenheit zu absichtslosem Denken.

Die feinsten Gazetten empfehlen regelmäßig rund um die Sommersonnenwende, welche Romane, historischen Folianten oder schmalen Lyrikbände die Leser in den längst verdienten Urlaub mitnehmen sollten. Ein Fachausdruck für diese Art von Bestsellern heißt Strandlektüre. Leicht soll sie für den Mitteleuropäer sein und, bitte, auch noch permanent heiter. Es scheint, als ob man so in vielen Regionen zwischen Lüneburg und Leibnitz dafür kompensiert, dass die deutsche Literatur sonst eher schwerfällig anmutet.

Fast hätte ich Herdentier aus der Serengeti des Gegengiftes ausschließlich Krimis von Andrea Camilleri, Fred Vargas und Michel Connelly sowie die Autobiografie von Thomas Gottschalk in den Koffer gepackt, da fiel mein Blick auf das neueste Times Literary Supplement, das seinen Rezensenten ebenfalls Sommer-Tipps abverlangt. Die sind aber oft nicht trivial, sondern bildungsbürgerlich. Mary Beard zum Beispiel, strenge Donna der Universität Cambridge, schwärmt für die neue Übersetzung der „Ilias“ des Homer durch Peter Green, US-Autorin Lydia Davis für Caesars „Commentarii de Bello Gallico“ in der zweisprachigen Ausgabe der Loeb Classical Library.

Ja, spinnen denn diese Angelsachsen? Reicht es denn nicht schon, dass man unterm Jahr den Kindern vorspielen muss, man könne noch immer mühelos verstehen, was Tacitus meint, wenn er schreibt: „Nihil rerum mortalium tam instabile ac fluxum est quam fama potentiae non sua vi nixae...“?

Fifty Shades of Latin klingt auf den ersten Blick tatsächlich nach einer höchst perversen Form der Züchtigung, mag man nun lesend am Ufer des exotischen Neufelder Sees oder an den vertrauten Gestaden der Adria liegen. Aber vielleicht haben Beard und Davis, zwei wirklich intelligente Intellektuelle, irgendwie doch recht. Wann, wenn nicht in völliger Entspannung, hat man die Muße, sich absichtslos dem Denken zu widmen? Also wird die Trivialliteratur wieder ausgepackt, Weltliteratur ist an der Zeit.

Jetzt ist endlich die passende Gelegenheit für Marcel Prousts „Sodom und Gomorra“ und auch für ein stilles Spätwerk von Charles Darwin, für das sich nie Gelegenheit zum ernsthaften Nachdenken fand: „The Power of Movement in Plants“. Ich finde, diese Studie aus dem Jahre 1880 hat Zukunft. Zwar sitze ich zur Happy Hour gern im Garten und beobachte die Himbeeren beim Wachsen, aber der Fototropismus hat mich, ehrlich gesagt, bisher noch nie heftig bewegt.

Natürlich werde ich zudem einen Thriller einpacken, falls meine notorische Spätbucher-Familie demnächst tatsächlich verreist: etwas Wirtschaftliches. Die Vita eines richtigen Bösewichtes sollte auch mit. Ein Buch über Napoleon Bonaparte vielleicht. Als er schon reif für die Insel war.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2015)

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