Dantes Vision klingt heute verlockend: Ein eisbedeckter See

Ist es nun in der Hölle tropisch, wüst oder arktisch? Derzeit wäre eine Fahrt zum Nordpol eine willkommene Abwechslung.

Freitag nach eins im brutalsten Sommer seit Menschengedenken: In Erdberg kocht der Asphalt. Längst sind die vernünftigen Wiener aufs wasserreiche und bewaldete Land geflohen. Nur noch versprengte Reste an Schreibwilligen müssen im Gegengift ihre Schuldigkeit tun, so wie die Isothermen und Isotheren in einem extremen Roman, der ebenfalls im hitzigen August beginnt, das aber vor mehr als hundert Jahren.

Wie bringt man Leserinnen und Lesern Trost, die ebenfalls in der Stadt geblieben sind und es bei gefühlten 42Grad im Schatten noch auf sich nehmen, diese Kolumne zu lesen, nachdem sie sich zuvor durch Berichte über Terror, Flüchtlinge und Landeshauptleute gearbeitet haben? Es ist nun an der Zeit für Empfehlungen von antizyklischem sommerlichen Lesestoff. Denn die Glaziologen des Gegengifts sind überzeugt davon, dass übertriebenes Wüsten- oder Tropenklima nicht nur Aggression, sondern auch Herzenskälte fördert, mehr noch als die traurigsten arktischen Stürme.

Als mildes Heilmittel gegen den Hitzschlag fällt mir Christoph Ransmayrs früher Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ ein, in dem er die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition aufarbeitet, die 1872 bis 1874 in die absolute Kühle führte: minus 48 Grad! Mindestens. Acht Monate ohne gnadenlose Sonne, dagegen ist der Juli wie ein einziger endloser Tag. Zuvor heißt es im Frühjahr: „Das Eis, das der Winter unter ihr Schiff gepresst hat, liegt an manchen Stellen in einer Mächtigkeit von neun Metern, ihre Wasserlöcher sind tief wie Brunnen...“ Und im August? „Nebelfetzen treiben über das Eis.“

Jetzt ist die ideale Saison, um in der Lektüre mit Jack London an den Yukon zu reisen, mit Schlittenhunden dem Ruf der winterlichen Wildnis zu folgen, mit Sir John Franklin im nüchternen Stil der Entdecker des 19. Jahrhunderts die Nordwestpassage zu suchen oder mit Fräulein Smilla in Grönland das Gespür für Schnee zu entwickeln. Zurzeit wünsche ich mir sogar die Hölle kalt. Da kommt Dante Alighieris „Inferno“ gerade recht, der erste Band seiner „Commedia“: Dort sind die ganz üblen Burschen im letzten Höllenkreis, im neunten, bis zum Kopf eingefroren in einen See. Hier ist das Reich der Verräter, in ihrer Mitte steckt Luzifer höchstpersönlich im Eis, mit Judas, Brutus und Cassius in seinen drei kalten Mäulern. Seltsam! Jetzt im Hochsommer will sich bei dieser Szene weder Furcht noch Zittern einstellen. In unseren Breiten wirkt eher das Heiße satanisch als das Kalte, besonders rund um Ferragosto.

Und was sollen Kinder in der Hitze lesen? Drachengeschichten. Selbst auf deren Inseln ist es derzeit zu warm. Deshalb beschließen zum Beispiel die kleinen Freunde in Ingo Siegners Kinderbuch „Der kleine Drache Kokosnuss und die Reise zum Nordpol“, einem ausgehungerten Eisbären zu helfen. Der Arme ist auf einer Eisscholle bei ihnen gelandet. Sie führen ihn in seine kalte Heimat zurück. Die Klimakatastrophe hat inzwischen das Kinderzimmer erreicht.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2015)

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