Wir brauchen höhere Zäune und effizientere Minengürtel

Vorsicht, Satire! Dieser Text könnte Personen, die unter Atemnot, Xenophobie oder Schwindelgefühl leiden, verunsichern.

Ein Gedankenexperiment aus den Kellern fremder Stereotypen des Gegengifts: Angenommen, seit 1945 hätten sich Österreichs (alles in allem gar nicht so schlechte) Regierungen in Flüchtlingsfragen ähnlich defensiv verhalten wie heutzutage der durchschnittliche EU-Staat. Welche Utopie ergäbe sich daraus?

1945: Die Sudetendeutschen kommen! Unsere Grenzen müssen von den alliierten Truppen schärfer bewacht werden, denn Deutschböhmen passen doch überhaupt nicht in unsere Alpen, die sind ja nicht einmal Ober- oder Niederösterreicher, geschweige denn Steirer oder Tiroler. Unsere Versorgungslage ist angespannt. Sollen wir, die ersten Opfer Hitlers, uns von denen das karge Brot wegessen lassen? Wo bleibt die US-Armee, wenn man sie braucht?

1956: Die Ungarn kommen. Erhöht den Eisernen Vorhang um mindestens zwei Meter! Wie oft haben pannonische Asiaten unseren Kaiser verraten und mit den Türken paktiert? Wahrscheinlich sind sie ohnehin keine politisch Verfolgten, sondern heimliche Kommunisten, die unsere Demokratie unterwandern wollen, ausgerechnet jetzt, wo unser Marshallplan zu greifen scheint. Wir müssen unseren hart erarbeiteten Wohlstand verteidigen. Trau keinem Ungarn, die Hunnen sind wieder vor den Toren!

1968: Schon wieder die Tschechen und Slowaken, diesmal unter dem Deckmantel des Prager Frühlings. Hatten wir nicht genug schlechte Erfahrungen mit Ziegel-Böhmen? Es ist kein Platz in Österreich für gefährliche Leute. Wir sind fast sieben Millionen.

1990: Die Welt steht nicht mehr lang. Jetzt kommen sie schon aus Rumänien und Bulgarien. Das passt kulturell gar nicht mehr. Die sind allesamt von der Securitate. Das Boot ist voll. Österreich hat fast sechs Millionen Einwohner. Mitten in der Wirtschaftskrise darf es nur westwärts gehen. Der Ost-Wall gehört erneuert. Wir brauchen effizientere Minengürtel.

1995: Schon wieder Ex-Jugoslawen! Warum sollen wir Leute aufnehmen, die sich stets gegenseitig an die Gurgel fahren? Die Nato muss in den Kriegsgebieten südlich der Drau eingreifen, um Ordnung zu schaffen. Wir können leider nicht, wir sind neutral und außerdem ein Land mit geringerer Bevölkerungszahl als die Schweiz. Die übrige EU ist verpflichtet, uns vor dieser Gefahr zu schützen.

2015: Ich denke daran, aus Wirtschaftsgründen zu flüchten. Von fast fünf Millionen Österreichern sind drei Millionen mehr als 50 Jahre alt, also im Ruhestand. Kann ich denn künftig mit nur 400 Euro Pension meine Familie ernähren? Wir müssen weg, zumindest nach Slowenien oder in die Slowakei. Aber wie? Die Zäune rund um unser Land sind inzwischen zwölf Meter hoch, und dort wird scharf geschossen. Die Welt ist ungerecht.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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