So viele Todesfälle, aber wenigstens ein Geburtstag: Gryphius!

Das Gedenken an Shakespeare und Cervantes ist zumindest 2016 vollbracht. Jetzt wäre es an der Zeit für ein richtiges barockes Spektakel.

Das Shakespeare-Fieber war bei den Fans des Dichters im „Gegengift“ kurz vor seinem 400. Todestag bereits akut ausgebrochen, die Liebhaber des fantastischen „Don Quixote“ hatten sich längst schmollend zur Lektüre von moralischen Novellen in ihre Schreibstuben zurückgezogen, weil sie ihren ebenfalls vor 400 Jahren verblichenen Favoriten Miguel de Cervantes Saavedra wieder einmal nicht gebührend gewürdigt fühlten, da flatterte ein Mail über meinen Bildschirm. Ein gebildeter Leser mahnte: „Bitte nicht auf Andreas Gryphius vergessen!“ Er feiert 2016 seinen 400. Geburtstag. Zwar wurde er erst am 2. Oktober 1616 in Glogau im heutigen Polen geboren, doch wollen wir ihn vorauseilend loben. Denn diesem tollen deutschen Barockdichter geht es so schlimm wie Francis Beaumont. Er wird von Shakespeare überstrahlt, wie all die anderen Edelfedern seither.
Erschwerend kommt für Gryphius hinzu, dass er in denselben Sparten wie der große Engländer geschrieben hat. Etwa Sonette, die trotz der kleinen Form von großer Wucht sind. Seine stärksten Verse zeigen ein existenzielles Ringen, wie das „Beschlus Sonett“ einer Sammlung zeigt. Er klagt „ . . . da uns Gott / Sein wort, mein licht, entzog: als toller feinde schertzen / Als falscher zungen neidt drang rasends mir zue hertzen, / Schrib ich, was itzt kombt vor, mir zwang die scharffe noth, / Die federn in die faust . . .“
Gryphius durchlebte den Dreißigjährigen Krieg, beim Westfälischen Frieden war er 32 Jahre alt und hatte noch knapp 16 Jahre zu leben. Es blieb also noch genügend Zeit für große Dramen. Eines der bekanntesten spielt in England: „Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien. Trauer-Spil“ (1657).
Die Titel der Tragödien mögen für heutige Ohren umständlich klingen, doch die Texte dieses gelehrten Mannes sind voller Lebenserfahrung. Seine Eltern starben früh, Gryphius erlebte die Zerstörung Glogaus, religiöse Verfolgung, die Schrecken des Krieges. Er reiste viel, studierte in Leiden und lernte in den Niederlanden den Philosophen René Descartes kennen. Eine große Tour führte ihn durch Frankreich bis Italien. Zurück in Schlesien, wuchs sein Ruhm. In der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, einer noblen Art von Pen-Club, der die deutsche Sprache pflegte, hieß er der Unsterbliche.
Wer also will nicht einen Gryphius loben; doch wird ihn noch irgendjemand lesen? Dieser barocke Dichter zählte in meiner Schulzeit noch zur Pflichtlektüre. Allerdings kann ich mich an die Details seiner Tragödien kaum noch erinnern. Haften geblieben ist hingegen der Titel einer seiner irren Komödien: „Horribilicribrifax Teutsch. Scherzspiel“. Der Text ist so sprachverliebt und babylonisch verwirrend, dass postdramatische Regisseure damit eigentlich eine Freude haben müssten. Bis zum 400. Geburtstag des Andreas Gryphius am 2. Oktober könnte sich doch noch irgendwo in Europa eine Inszenierung ausgehen.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

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