Kleine Sehhilfe für die Kunst im schicken Teil von San Francisco

Ein Teenager beweist: Die Brille liegt vorm Auge des Betrachters.

Diesen Namen wird man sich merken müssen, zumindest für die nächsten 15 Minuten: TJ Khayatan ist, wenn man Quellen im Netz vertraut, 17. Er interessiert sich nicht nur für Kunst, sondern macht sie auch. Unlängst (für soziale Medien liegt der Vorfall fast so weit zurück wie der Abend, an dem Hugo Ball und Emmy Hennings das Cabaret Voltaire eröffneten) besuchte Khayatan mit Freunden das Museum of Modern Art in San Francisco. Sie schauten sich ausgiebig um, einiges gefiel ihnen, anderes nicht – nicht zum Beispiel ein ausgestopftes, auf einer Matte ausgestelltes Tier.

Das brachte den Jugendlichen, so es ihn denn gibt, auf eine Idee. Er legte seine Brille auf den Boden, dann filmte er, wie andere Besucher auf das Objekt reagierten. Dieser Versuch klappte offenbar besser als ein Readymade mit Baseballkappe. Die Bilder im Netz zeigen Besucher, die gar nicht interesselos, sondern zum Teil mit Wohlgefallen das sinnlich scheinende Dasein der Brillenidee betrachteten. Das beweist wohl wieder einmal, wo die Schönheit wirklich liegt. Die diskrete Beobachtung der Beobachtung von Kunst boomte bald auf Twitter. An die 60.000 Likes in vier Tagen, Interviews und früher Ruhm auf BuzzFeed!


Leider – das schmerzt die Abteilung für Kunsthandel im Gegengift – sieht man in den Fotos nicht, was auf Zetteln über dem Kunstwerk an der Wand steht. Aber dieses Geheimnis könnte zumindest seine Aura fördern. Künftige Generationen von Kunsthistorikern sollen am Wochenende erforschen, in welches semantische Umfeld Khayatan (der sich im Netz @TJCruda nennt) seine Sehhilfe gebettet hat. Erst dann wird man vielleicht wissen, ob es sich um ein reaktionäres politisches Statement, reinen Aktionismus oder bloß L'art pour l'art handelt. Bis dahin dürfen gröbere Seelen posten, sie hätten immer schon gewusst, Kunst sei nur Bluff. Weiß man ja. Wir Adoranten im Gegengift wünschen Khayatan trotzdem eine tolle Karriere. Fame! Es gibt viel zu wenig Brillen in der Kunst.

Der Familienname von TJ existiert tatsächlich, man findet ihn im Iran, in Indonesien, den USA, Australien und Schweden. Khayatan reimt sich unter anderem auf Yucatan, Scharlatan und Satan. Das könnte praktisch sein, falls einmal Loblieder auf ihn in Kunstgeschichten nötig werden. Nur so: Dreht man den Namen um, wird Natayahk daraus. Klingt fast wie Dada.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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