Brüder, lasst uns die Reihen schließen! Wir treten zurück!

Zufall und Können entscheiden darüber, welche Mannschaft im Calcio gewinnt. Bei der Hymne gibt es längst einen Sieger.

Der Männerchor im „Gegengift“ wurde gebeten, eine Expertise zu den Hymnen jener 24 Länder abzugeben, die seit Freitag mit allen Mitteln versuchen, Europameister im Fußball zu werden. Die bezwingende Logik dahinter: Nur eine Mannschaft wird Erster, aber die Verlierer können trotzdem behaupten: Pech im Spiel, Glück im Gesang – die schönste Hymne haben allemal wir!

Schlechte Nachrichten für Österreich. Unsere Siegeschancen sind derzeit im Kicken zwar noch vorhanden, aber „Land der Berge“ hat einen Dreivierteltakt! Der ist mit einer erfolgreichen Mannschaft inkompatibel. Auch die Engländer unterliegen diesem Kardinalfehler. Solche Rhythmen wären vielleicht dafür geeignet, einer Königin oder einem Ersatz-Kaiser zu huldigen, sie lassen aber jeden Kampfeinsatz vermissen. Schlimmer ist nur noch der Schweizerpsalm. Arme Eidgenossen, eins-zwei-drei zu einem Messgesang! Damit kann keiner eine EM gewinnen.

Nein, solch politisch korrekte Gesten der Harmonie sind, zumindest in der rauen Sprache des Stadions, nur etwas für Warmduscher. Mit einem lieblichen Lied wie unserer alten Kaiser-Hymne (die brutal vom Ausland gestohlen wurde) müssten die Deutschen stets in der Vorrunde ausscheiden. Richtige Kerle brauchen zum Siegen Marschmusik. Fußball ist ein proletarischer Sport von der Straße. Zwar werden nicht mehr wie einst in Albion abgeschnittene Verlierer-Köpfe von einem Dorf ins andere gekickt, aber die Vollkontakt-Grätsche gehört zu dieser Ertüchtigung ebenso wie der ambulante chirurgische Eingriff am gegnerischen Bein mittels Stollen.

Deshalb wäre an sich die „Marcha Real“ der logische Europameister – zackig, militärisch und auch noch von der Infanterie. Aber Spaniens Hymne hat einen entscheidenden Nachteil. Es gibt keinen offiziellen Text. Gelbe Karte! Was wäre ein Besuch im Stade de France ohne die beliebten Schmäh-Lieder? Also ist der königliche Grenadiermarsch draußen. Ins Finale kommen Frankreich und Italien.

In ihren Hymnen wird zu den Waffen gerufen, sie marschieren ohne zu zögern los. Wer jedoch „Qu'un sang impur/Abreuve nos sillons!“ singt, wer also derart exzessive Fantasien von Blutvergießen hat, wird vom Platz gestellt. Rote Karte für Les Bleus.

Immerwährender Europameister seit 1847: Bella Italia. Bei der Hymne passt einfach alles. Michele Novaros Melodie reißt alle mit, die Herzen eint der heroische Text Goffredo Mamelis, der mit 22 Jahren starb, im besten Alter für einen Calciatore. Der Student aus Genua erlag 1849 den Folgen einer Schusswunde, die er beim Kampf um Rom erlitten hatte. Allein das erste Wort der Hymne, „Fratelli“, gibt die Richtung vor. Woraus, wenn nicht aus einem einig Team von Brüdern sollte eine Elf bestehen? Das Land hat sich erhoben, von den Alpen bis Sizilien, es setzt den Helm des Hannibal-Bezwingers auf, des alten Römers Scipio. Der böse österreichische Adler verliert bereits die Federn. Die Squadra Azzurra will nicht länger „getreten und ausgelacht“ werden. Sie tritt zurück.

Ihre Taktik ähnelte weit vor der Erfindung des modernen Fußballs der Raffinesse des Catenaccio: „Lasst uns die Reihen schließen . . .“ Mit unseren elegantesten Nachbarn ist immer zu rechnen. Die Italiener haben nicht nur die virilste Hymne. Sie können auch locker auf anderen Gebieten Europameister werden. Etwa bei der Wahl der hübschesten Dressen und Frisuren.

E-Mails an:norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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