Erkenntnis II: Die Wiederholung ist die Mutter der Weisheit

Freud nahm in „Jenseits des Lustprinzips“ mutig an, dass Triebe primär dazu drängen, einen früheren Zustand wiederherzustellen.

Die völlig unpolitischen Freundeskreise im War-Room des Gegengiftes sind am Freitag weit vor eins ins Streiten gekommen: Hat das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, in ganz Österreich eine neuerliche Stichwahl zum nächsten Bundespräsidenten anzuordnen, dem Wort Wiederholung einen weiteren Imageschaden zugefügt oder es, ganz im Gegenteil, ins Positive gewendet?

„Der Anfechtung wird stattgegeben!“, meinten die Richter. Sie führten schlagende Argumente an, doch auch ohne sie hat es die Wiederholung in Zeiten, da man Fortschritt wie einen Götzen anbetet, besonders schwer. Wer es gewohnt ist, alle Jahre sein neues Mobiltelefon gegen ein allerneuestes zu tauschen, wer abhängig von täglichen Updates ist, dem mag es vielleicht auch völlig naturgemäß vorkommen, nach der Ersten und Zweiten spontan eine Dritte Republik auszurufen oder einen noch radikaleren Systemwechsel einzuleiten. Solch ein Versprechen kann aber furchtbar sein und sogar ins ewig Gestrige führen.
Zugegeben, welcher Schüler liebt schon das Wort Wiederholung? Stets schwingt das Scheitern mit. Nicht einmal im Fernsehen sind Wiederholungen beliebt, außer sie erfolgen in Zeitlupe unmittelbar nach einem Tor oder einem Sturz. Das Kompositum Wiederholungstäter erfreut höchstens den Boulevard. Und Sigmund Freud hat den Zwang dazu in der Abhandlung „Jenseits des Lustprinzips“ so erklärt: Triebe würden keineswegs nur vom Streben nach Lust beherrscht. Im Gegenteil!  Primär sei der Drang, einen früheren Zustand wiederherzustellen. Freud nimmt mutig an, „dass es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaus setzt“.

Wir wollen solch ernüchternde Erkenntnis heute aber ausnahmsweise verdrängen und stattdessen nur Positives suchen. Immerhin steckt doch im Wort Wiederholung auch Erholung. Diese Wirkung hatten auf mich an der Universität jene Lehrveranstaltungen, die Repetitorium heißen. Das meiste dort Vorgetragene kannte man schon, unter solchen Umständen ist es viel leichter, Wissen zu festigen. Jeder Lehrer weiß, dass die rechte Mischung aus Altem und Neuem den besten Lerneffekt ausmacht. Wiederholung ist die Mutter der Weisheit. Allerdings mag das eine Charakterfrage sein. Manche Menschen gehen gern zu Festen, bei denen sie kaum jemanden kennen. Zu ihnen zählen auch die nicht eingeladenen Gäste. Andere wiederum sind bereits irritiert, wenn sich die Sitzordnung im Stammcafé verändert hat.

Diese Typisierung gilt auch in der Kunst. Die einen hasten stets dem Neuesten nach und altern dabei sehr rasch. Die anderen malen immer nur Schwäne, werden zuweilen aber auch zu Klassikern. Apropos: Wer jetzt noch nicht von der Tugend des Gleichen überzeugt ist, dem rate ich, „Die Wiederholung“ von Peter Handke zu lesen – ein Epos, so dauerhaft, dass man es getrost mehrmals lesen kann.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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